CHRISTOPH NußBAUMEDER: DIE
UNVERHOFFTEN
Christoph Nußbaumeder wurde als Dramatiker bereits mit mehreren Preisen gekrönt. Sein
2010 im Schauspielhaus Bochum uraufgeführtes Theaterstück Eisenstein konnte
jedoch nicht recht überzeugen. In mehrjähriger Arbeit machte der Autor jedoch einen
Roman daraus und - schuf damit einen echten Geniestreich.
Die Unverhofften lautet der Titel und dieser gewaltige Debütroman umfasst
gleich vier Generationen vom Einstieg im Jahr 1899 bis in die Gegenwart vor dem
Hintergrund deutscher Wirtschaftsgeschichte. Schon der Auftakt mit einer großen
Brandstiftung zeitigt wichtige Folgen, auch wenn die Täterin unerkannt fliehen kann.
Diese Magd Maria hatte der junge dünkelhafte Unternehmer Siegmund Hufnagel vom
allgemeinen Gesinde ins Herrenhaus wechseln lassen. Vor dort aus regierte der Erbe der
Eisensteiner Glashütte quasi den gesamten Ort im abgelegenen bayerischen Böhmerwald nahe
der tschechischen Grenze. Nachdem er Maria vergewaltigt hat, sorgen die
Herrschaftsverhältnisse dafür, dass Maria nur noch Rache üben und verschwinden kann.
Für die Hufnagel-Dynastie erweist sich der Untergang der Glasfabrik jedoch als
Glücksfall: man wird auf elegante Weise die aufmüpfig gewordene Arbeitsschaft los, die
Versicherung zahlt und Hufnagel setzt mit dem richtigen Gespür auf Holzwirtschaft, zumal
die Glasproduktion ohnehin im Niedergang ist. In sieben großen Kapiteln schreitet diese
Familiensaga voran und der Sprung zum Kriegsende 1945 stellt viele Weichen neu.
Hufnagel-Sohn Josef verlor im Krieg ein Bein und ist verbittert mit Depressionen und einer
kränkelnden Frau. Sein charakterschwacher Bruder Vinzenz kehrt nach einer SS-Karriere
heim und ist zu nichts zu gebrauchen. Und just in den letzten Kriegstagen taucht Erna
Schatzschneider auf dem Gut auf Tochter jener Brandstifterin von einst und vor den
Sowjets hierher geflüchtet, weil ihr Onkel Franz als Knecht auf dem Gut arbeitet.
Auf der Flucht hatte sie eine innige Liebesnacht mit einem KZ-Flüchtling. Mit Folgen. In
ihrer Not verführt sie Josef Hufnagel und lässt ihn im Glauben, Vater ihres 1946
geborenen Sohnes Georg zu sein. Diese Lüge aber zeitigt von nun an immer neue
schicksalhafte Lügen, weil die vermeintliche Vaterschaft ein Geheimnis bleiben muss.
Zumal sich Josefs Frau unerwartet erholt und nur wenige Wochen nach Georg die kleine
Gerlinde zur Welt bringt.
Doch es wird nicht nur von zwischenmenschlichen Verwicklungen erzählt, sondern auch von
wirtschaftlichen Entwicklungen. Die von politischen begleitet werden und hier steigt der
charismatische Holzbaron als Unvorbelasteter durch die US-Besatzer zum Bürgermeister und
später bis zum Staatssekretär in München auf. Zugleich fördert er seinen
Sohn als Firmenerben und der legt großen Ehrgeiz vor, während seine Mutter von Josef an
Vinzenz verkuppelt wird. Eine Vernunftehe, bis sich der Seelenkrüppel umbringt.
Die grundlegende Familienlüge rächt sich eines Tages, denn als sich Georg und Gerlinde
als junge Erwachsene wiedersehen, knistert es heftig. Ein intensives Liebesglück
entsteht, bis Josef davon erfährt und drastisch auf das Ende der insgeheim angenommenen
blutschänderischen Liaison pocht. Und Erna muss schweigen, worauf es zur bitteren
Trennung der Liebenden kommt. Mit nie wieder heilenden seelischen Wunden.
Noch mehr stürzt sich Georg in die Arbeit und hat hier das weitaus glücklichere
Händchen. Das ihn erst durch Leistung und später auch durch Chuzpe zum schwerreichen
Unternehmer macht. Der im Übrigen dann doch noch heiratete ausgerechnet Gerlindes
jüngere Schwester Heidi. Dass gewisse heikle Geheimnisse irgendwann ans Licht kommen,
nützt jedoch keinem der Betroffenen mehr etwas.
Eingebettet ist das Alles in das reale Geschehen in Deutschland und glänzt mit
faszinierendem Zeit- und Lokalkolorit bis in Feinheiten der gesellschaftlichen
Entwicklungen. Saft- und kraftvoll wird hier erzählt mit starker nüchterner Prosa und
solch exzellenten Dialogen, wie man sie von einem versierten Dramatiker erwarten darf.
Kredenzt wird ein komplexes Handlungsgerüst, das aber großartig ineinander verwoben ist
und bis zur letzten Zeile fesselt.
Fazit: ein ungemein packendes und höchst authentisches Stück Literatur zu einer
deutschen Mehrgenerationengeschichte und ganz gewiss ein Anwärter für den deutschen
Roman des Jahres 2020.
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