KARINE TUIL: MENSCHLICHE
DINGE
Der Titel Menschliche Dinge klingt so harmlos, dabei hat die französische
Erfolgsautorin Karine Tuil mit diesem Roman quasi eine Art griechische Tragödie im 21.
Jahrhundert geschrieben. Und es sei vorweg gesagt: völlig zu Recht ist sie dafür in
Frankreich bereits unter anderem mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden.
Die Farels geben ein fabelhaftes Bild ab und in diesem Januar 2016 soll es einen
endgültigen Triumph für den mächtigen Fernsehmoderator Jean geben, die Ernennung zum
Großoffizier der Ehrenlegion durch den Präsidenten. An der Seite des noch immer virilen
und gut aussehenden 70-Jährigen seine 27 Jahre jüngere Ehefrau Claire, als feministische
Sachbuchautorin und Essayistin auch sie eine ebenso attraktive wie einflussreiche
Persönlichkeit des kulturellen Lebens.
Am stolzesten aber ist Jean Farel auf den gemeinsamen 21-jährigen Sohn Alexandre. Mit
seinen herausragenden Leistungen hat er es bis zur Aufnahme an der berühmten
Stanford-Universität gebracht. Doch die Bilderbuchfassade trügt und verbirgt einen
Vulkan. Noch weiß es die Öffentlichkeit nicht, aber nichts stimmt hier wirklich. Jean
und Claire führen längst jeder ein Doppelleben und ihr sensibler und emotional stets
vernachlässigter Sohn hat bereits einen Suizidversuch hinter sich. Zudem brodelt es
aktuell in ihm, weil ihn seine heiße Liebe Yasmina aus unerklärlichen Gründen
abserviert hat.
Der narzisstische Jean, der sich einst aus der Gasse hochgearbeitet hat und ein
ausgesprochener Frauenheld ist, hält sich heimlich seit 18 Jahren mit der schönen
kultivierten Kollegin Francoise eine Geliebte. Doch sie ist fast gleichaltrig und er
konnte sich mit ihr nicht zeigen, ohne sein gesellschaftliches Image zu
beschädigen. Claire wiederum, die seit längerem nur noch wegen Alexandre und des
Anscheins willen in der gemeinsamen Luxuswohnung gewohnt hatte, lebt seit kurzem mit dem
gleichaltrigen Adam Wizman zusammen.
Als geübte Simulanten ehelichen Glückes hatte eine unbändige Amour fou die Beiden alle
Grenzen überschreiten lassen. Wobei die Ehe mit seiner orthodox-jüdischen Frau zerbrach
und er seinen Job verlor. Alexandre tobt innerlich über die Trennung seiner Eltern,
dennoch folgt er wie Claire der Einladung des Familienoberhaupts zu dessen großem
Ehrentag im Elysee-Palast.
Doch dieser Festakt auf dem Olymp steht unter einem denkbar ungünstigen Stern. Ein Neider
hat einen katastrophalen Zeitungsartikel just an diesem Tag veröffentlicht und Jean
erhält eine SMS, dass Francoise die einzige Frau, die er wirklich jemals liebte
einen Selbstmordversuch begangen habe. Aber selbst einen massiven Störversuch
durch einen alten Freund kann der skrupellose Jean noch abwehren.
Die Katastrophe jedoch wirft ihren Schatten noch in dieser Nacht voraus, als der
angesäuerte Alexandre zu einer Studentenparty aufbricht und er auf Wunsch seiner Mutter
ausgerechnet Adams 18 Jahre alte Tochter Mila mitnehmen soll, um auf sie
aufzupassen. Das verklemmte Mauerblümchen verlässt die heftige Party mit ihm
zu einem Spaziergang, bei dem sie auch Stoff konsumieren.
Als Alexandre sie dann sexuell bedrängt, lässt sie es widerwillig geschehen. Ihre
hemmungslose Tränenflut setzt erst ein, als er nach dem schnöden Quickie ihren Slip
einsteckt und verkündet, den brauche er als Trophäe bei den Kommilitonen, denn der Akt
sei Aufgabe einer sogenannten Challenge gewesen. Um so fassungsloser ist er am anderen
Morgen, als die Polizei bei ihm eindringt und ihn wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung
rüde verhaftet.
Damit bricht die Hölle los und das nicht nur für Alexandre. Schnell titeln die Zeitungen
über den Farel-Skandal und als der Fall nach zwei Jahren endlich vorm
Schwurgericht verhandelt wird, setzt ein schonungsloser Gerichtsthriller ein. Nichts
bleibt mehr im Verborgenen, niemand wird geschont. Auch Mila nicht, deren Darstellung so
völlig anders klingt als die des Sohnes aus feiner Familie.
Und es gehört zu den großen Qualitäten Karine Tuils, dass sie hier auch
angesichts der durch die me:too-Bewegung angeheizten Stimmung nicht schwarz-weiß
malt. Da steht das schändliche Benutzen der jungen Frau Ungereimtheiten ihres Verhaltens
gegenüber. Die Autorin nennt die Dinge beim Namen und sie seziert sämtliche der
meisterhaft gezeichneten Charaktere schonungslos. Als die geschönten Masken fallen, wird
alles zur Tragödie und es gibt keinen Gewinner.
Fazit: ein grandioser Gesellschaftsroman, modern, packend und auf erlesenem Niveau.
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