ANURADHA ROY: DER GARTEN
MEINER MUTTER
In meiner Kindheit war ich als der Junge bekannt, dessen Mutter mit einem Engländer
durchgebrannt war. Das steht am Anfang des großen Rückblicks des alten Herrn,
nunmehr 60 Jahre, nachdem ihm im Alter von neun Jahren dieses lebensprägende Unglück
widerfahren ist.
Damit leitet Anuradha Roy ihren mittlerweile vierten Roman unter dem Titel Der
Garten meiner Mutter ein, mit dem die Erfolgsautorin einmal mehr auch tief in die
Geschichte Indiens eintaucht. Der Junge, der hier aus dem Alter heraus selbst erzählt,
wurde im Übrigen stets nur mit seinem Spitznamen Myshkin gerufen nach Dostojewskis Roman
Der Idiot.
Neun Jahre ist er, als seine erst 26 Jahre alte schöne Mutter Gayarti plötzlich
verschwindet. Gefolgt ist sie dem engländer, der in Wirklichkeit der deutsche
Künstler Walter Spies (1895-1942) war, der die Kleinstadt am Himalaya 1937 besuchte. Doch
allmählich entfaltet sich auch die Vorgeschichte, denn Gayarti folgt dem auf Bali
lebenden Deutschen nicht einfach so und auch nicht wegen einer Affäre (Spies bekam
vielmehr in der Wahlheimat Probleme wegen seiner Homosexualität).
Gayarti hatte als Mädchen eine glückliche Zeit mit ihrem Vater, einem College-Professor,
der sehr viel Wohlwollen für die künstlerischen Interessen und Begabungen seiner Tochter
hatte und die entgegen aller damaligen Gepflogenheiten stark förderte. Auf einer
gemeinsamen Reise lernte Gayarti Spies kennen, der als Maler auf Bali lebte und sich
insbesondere mit fernöstlicher Musik und Tanzkunst beschäftigte.
Gleich nach der Heimkehr aber verstarb der Vater und die konventionelle Familie
verheiratete Gayarti umgehend mit einem ehemaligen Studenten ihres Vaters. 15 Jahre älter
als sie, war er zwar Atheist und fortschrittlich gesonnen, ohne das jedoch auf seine Frau
zu beziehen. Deren Leidenschaft für Malen, Singen und Tanzen duldete er nur als
nebensächliche Hobbies, auszuüben verborgen im heimischen Garten.
Als dann Jahre später Walter Spies in Begleitung der niederländischen Tänzerin Beryl de
Zoete (1879-1962) ausgerechnet in diese Kleinstadt am Himalaya kommt, bricht der ganze
Frust Gayartis über die Fesseln der traditionellen indischen Ehe auf und sie geht mit den
Auslädnern, um nie wiederzukehren.
Myshkin leidet sein Leben lang, zumal sein Vater in seinem Zorn ihm keinerlei Halt
gewährt und sich vielmehr so sehr für den Freiheitskampf Ghandis engagiert, dass er
später sogar auf Jahre inhaftiert wird. Nur der gütige Großvater lässt dem Jungen
Zuwendung und Verständnis zukommen, die unstillbare Sehnsucht nach seiner Mutter aber
kann auch er nicht lindern. Und noch weniger die bohrende Frage nach dem Warum.
Erst im Alter offenbaren bislang unbekannte Briefe Gayartis, die Myshkin von einem im
Zweiten Weltkrieg internierten deutschen Pater erhält, dass sie sich auf Bali
selbstverwirklichen und als die indische Malerin sogar einen Namen machen
konnte. Sie hatte ihre Freiheit als Frau und Künstlerin gefunden, doch um einen hohen
Preis nicht nur für sich selbst.
Eingebettet in ein großes zeitgeschichtliches Panorama breitet Anuradha Roy das Alles mit
einem breiten bunten Erzählfluss aus, der es nicht eilig hat zum Ziel zu kommen. Man
braucht Geduld für diesen Roman, doch dann erschließt sich nicht zuletzt dank der
faszinierenden Personenzeichnungen die ganze Magie dieser Geschichte, in der
Fiktion und Wirklichkeit sich vielfach auf meisterhaft gelungene Weise überschneiden.
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