OSKAR ROEHLER: DER
MANGEL
Einmal mehr hat der Filmregisseur und Schriftsteller Oskar Roehler seine eigene Vita als
Grundstock eines Romans verwendet. Die Kindheit in den 60er Jahren steht im Vordergrund,
der Autor ist selbst Jahrgang 1959.
Der Mangel lautet der Titel und davon gibt es ganz viel in diesen romanhaften
Erinnerungen. Der Wir-Erzähler gehört zu den Kindern einer Gruppe von Vertriebenen, die
sich oberhalb eines fränkischen Dorfes im Zonenrandgebiet angesiedelt haben. Mangelhafte
Hanggrundstücke hat man ihnen angedreht und über Jahre kommen die einfachen Hausbauten
nur mühsam voran.
Von den Einheimischen ausgegrenzt, mangelt es auch sonst an allem und Dinge wie Radio,
Fernseher oder gar ein Telefon sind unerschwinglich. Spielzeug für die Kinder aber
ebenso, allerdings wiegt das Fehlen von Zuwendung und Geborgenheit schwerer: Für
die Befindlichkeiten ihrer Kinder hatten sie überhaupt keine Zeit. Zugleich werden
die Väter beschrieben, einst Akademiker und ähnliches, deren Wissen im neuen Leben in
der von den dumpf stiernackigen Bauern angefeindeten Siedlung materiell nicht verwertbar
war.
Es waren melancholische Männer, die als Väter unzugänglich waren: einsilbig und
arrogant. Die Ungerechtigkeit nagte an ihnen. Schließlich verdingte sich der
introvertierte Vater des Erzählers als Handelsvertreter für Märklin-Eisenbahnen und war
unter der Woche unterwegs, während die Mutter daheim vor der Zeit alterte.
Die Kinder jedoch nutzten das fehlende Interesse ihrer Eltern an ihnen und genossen das
ungezügelte Umherstreifen. Und dann war da ihr besonderer Mentor, der Lehrer und
Anthroposoph Behrend, auch er ein Nachbar, der die Kinder um sich scharte zu einer Art
Club der toten Dichter. Schon mit vier Jahren lernten sie da Lesen und
Schreiben, er las ihnen hohe Literatur vor und öffnete ihren Blick für Kulturelles.
Um so brutaler war die Vertreibung aus diesem kargen aber geliebten Paradies, als gegen
den Widerstand der Bauern eine Schule gebaut wurde und mit sieben Jahren der erste, von
den Eltern unbeachtete, Schultag anstand. Mit altbackener Strenge brach Frau Heidrich,
eine hässliche alte Vettel, als Lehrerin über sie herein. Für den Erzähler wurde sie
zum Horror, denn sie hielt ihm einen schlechten Charakter vor, weil er Linkshänder
war.
Die grobschlächtige Lehrermachtdemonstration des Umpolens wird zum brillanten
Höhepunkt des Romans - absolut filmreif! - und sie wird für den obsiegenden Knirps zur
Abschiedsvorstellung vom weiteren Schulbesuch. Bis dann der Sprung in viel spätere Jahre
kommt mit menschlich schockierenden Umbrüchen und dem unbeholfenen Versuch eines
Künstlerlebens in West-Berlin.
Viel Tristesse wechselt sich hier ab mit Phasen von etwas, das wie ein Schimmer von
Lebensfreude in der Erinnerung widerhallt. Oskar Roehler schildert das Alles ebenso
poetisch wie präzise wie durch ein unerbittliches Vergrößerungsglas, niemals larmoyant,
aber auch nichts verklärend. Fazit: ein kleiner, ganz besonderer Roman aus den
Wirtschaftswunderjahren und einer Kindheit an deren ausgefranstem Rand.
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