ISABELLE AUTISSIER: KLARA
VERGESSEN
Seit 23 Jahren lebt Juri Bondarew in den USA und der 46-Jährige hat es bis zum
Ornithologie-Professor gebracht. Nun im Jahr 2017 ereilt ihn eine dringende Bitte aus
seiner einstigen Heimat, dem nordrussischen Murmansk: Vater Rubin liege im Sterben und
wolle den Sohn noch einmal sehen.
Juris Weggang damals war eine Flucht gewesen vor dem harten, unausstehlichen und
gewalttätigen Vater. Der hatte ihm Kindheit und Jugend zur Hölle gemacht und nur einmal
war es ihm gelungen, sich zu widersetzen als er wie der alte Säufer bei der
Fischereischifffahrt anfangen sollte. Seit dem Weggang hatte völlige Funkstille
geherrscht und nun auf dem Sterbebett erlebt Juri etwas Einzigartiges: erstmals in seinem
Leben bitte ihn der alte gebrochene Siegertyp um etwas.
Juri soll das so zwingend totgeschwiegene Schicksal von Rubins Mutter Klara ergründen.
Klara vergessen heißt denn auch der Titel des neuen Romans der französischen
Erfolgsautorin Isabelle Autissier. Rubin war vier Jahre alt, als er im Juni 1950 die
nächtliche Verhaftung seiner Mutter miterleben musste. Der Schrecken wurde nur noch
übertoffen von dem Hass auf den schwachen Vater, der dem Vorgang hilflos zusah.
Nie hat Rubin später darüber gesprochen oder gar etwas zu erfahren versucht. Vielmehr
glaubt er noch jetzt im Angesichte des baldigen Todes, dass die Geschichte mit
deiner Großmutter mein Leben verpfuscht hat. Klara war eine herausragende Geologin,
die eigens mit Ehemann Anton nach Murmansk versetzt wurde, um im atomaren Wettlauf mit den
USA nach Uranerz zu suchen.
Aus unerfindlichen Gründen im wilden Verfolgungswahn der Stalin-Ära zur Staatsfeindin
erklärt, verschwand sie spurlos von der Bildfläche. Die familieneigene Version lautete
zwar, dass sie bald darauf an einer Lungenkrankheit gestorben sei, Genaueres aber soll nun
Juri erforschen. Womit ein ebenso grandioser wie zutiefst beklemmender Blick in die wohl
schlimmste Epoche der Sowjet-Zeit aufgetan wird. Schon Juris erst Suche nach Spuren zeigt,
dass selbst in der Gegenwart die bedrückenden Nachwirkungen des Unwesens von MGB und KGB
noch zu spüren sind.
Was an die Erniedrigungen erinnert, die auch die Angehörigen einer solchen Ausgestoßenen
zu erleiden hatte. Das offenbart Rubins Jugend und sein späteres Leben, in dem er sich
mit eisernem Willen und sogar einer heimlichen Straftat bis zum Fischereikapitän
hocharbeitet. Die Härte und und die Kälte aber verfinsterten dann ebenso die ersten 23
Jahre in Juris Leben und sorgten für Hass, Ablehnung und Flucht. Und auch in Juris jungen
Jahren für ein Verbrechen, das den heimlich homosexuellen Feingeist lebenslang begleiten
soll.
Doch so eindrücklich und großartig die Schicksalsjahre von Vater und Sohn auch
geschildert werden, Klaras Geschichte stellt das Alles in den Schatten. Ihr Weg durch die
belegten aber noch heute unfassbaren Unmenschlichkeiten des Gulag geht tief unter die
Haut. Wie sie ohne Schuld auf sich geladen zu haben, entsetzliche Strapazen in der
arktischen Tundra durchleidet, wie sie plötzlich als Wissenschaftlerin wieder wichtig und
dann doch erneut missbraucht wird, das wühlt von Zeile zu Zeile auf.
Juri findet so manches heraus und wenn es nach fast 70 Jahren auch zu spät für die ganze
Wahrheit des Schiksals der Großmutter ist, so empfindet er am Ende der Scuhe doch so
etwas wie Frieden. Das Alles fesselt ungeheuer, das aber nicht nur wegen der Geschehnisse
sondern mindestens ebenso durch die einzigartige Prosa, denn mit so viel Sprachzauber sind
wilde Landschaft und das Toben der Naturgewalten selten beschrieben worden.
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