HILARY MANTEL: „SPIEGEL UND LICHT“


London, Mai 1536. Soeben ist Anne Boleyn, zweite Ehefrau von König Heinrich VIII, auf dem Schafott enthauptet worden und der, der das ebenso eingefädelt hat wie drei Jahre zuvor die Eheschließung, Thomas Cromwell, verspürt Hunger auf ein zweites Frühstück.
Damit beginnt „Spiegel und Licht“, Hilary Mantels Abschluss der großen Trilogie um den frauenverschleißenden König und seinen genialen Strippenzieher. Die beiden ersten Romane „Wölfe“ und „Falken“ hatten den Weg vom Sohn Sohn eines saufenden und prügelnden Grobschmieds bis zum mächtigsten Mann an Heinrichs Seite beschrieben. Beides im Übrigen mit dem renommierten Booker-Preis ausgezeichnete Welterfolge.
Nun stehen die vier Jahre von Anne Boleyns Hinrichtung bis zu Cromwells eigener im Mittelpunkt, so gewaltig und prall von Ereignissen, dass es den Umfang der beiden Vorgänger zusammen übersteigt. Es sind wild bewegte Jahre, in denen der scharfsinnige und weitsichtige Diener seines unberechenbaren Herrn mit Intelligenz, Effektivität und, wenn nötig, Ruchlosigkeit für vielerlei Reformen sorgt.
Er bringt dem dynastieversessenen König mit Jane Seymour neues Glück und endlich mit dem späteren Edward VI. sogar den ersehnten Thronfolger. Leider stirbt die junge Königin im Kindbett und der umtriebige Baron Cromwell of Wimbledon und Lordsiegelbewahrer, der als Generalvikar zusätzlich Heinrichs Stellvertreter als Oberhaupt der neuen Anglikanischen Kirche wird, schmiedet die vierte Ehe.
Doch zunächst feiert der Erste Minister Erfolge wie die Enteignung der Klöster, auf diplomatischem Wege die Abwehr einer Invasion durch den papsttreuen Kaiser und vieles mehr. Scheinbar unaufhaltsam ist der Aufstieg des Mannes, den seine katholischen Widersacher als „Sendboten des Teufels“ bezeichnen und er führt ihn bis zum Titel eines Earl of Essex. Bis diesem listenreichen Meister der Politik – und bis zum Tode loyalen Gefolgsmann seines Königs – entscheidende Fehler unterlaufen.
Erst hat er Heinrich zu der Eheschließung mit der protestantischen deutschen Prinzessin Anna von Kleve gedrängt und dann wird diese Eheanbahnung nicht zuletzt dank der schon äußerlich völlig unpassenden Braut zu einem solchen Desaster, dass der für seine folgenreichen Launen gefürchtete König ihm erbost das Wohlwollen entzieht. Gegensätzliche Glaubensauffassungen verschärfen Heinrichs Unmut darüber hinaus so weit, dass der Weg von der höchsten Ehrung im April 1540 schon am 28. Juli 1540 aufs Schafott führt.
„Sind Sie bereit, Lord Cromwell? Wir sind bereit für Sie“, mit diesen Worten geleitet man ihn zum Henker und auch diese letzte Szene des gewaltigen Romans beruht auf authentischen Quellen. Wie die gesamte Trilogie der Historie folgt und nur einige Nebenfiguren nicht auch in der Geschichtsschreibung zu finden sind.
Überlebensgroß agiert hier mit einem überaus vielschichtig schillernden Thomas Cromwell eine seinerzeit vielfach verhasste Persönlichkeit, die in vielem ihrer Zeit weit voraus war. Und Hilary Mantel ist es gelungen, dieses unterschwellige Gefühl, dass er an der Seite dieses launischen Königs nie versagen durfte, weil sonst der Untergang drohte, stets bewusst zu machen.
Sie erzählt das ebenso fakten- wie dialogreich im rasanten Präsenz und das durchgehend aus der Perspektive des trotzdem distanziert, ja beinahe fremd bleibenden Cromwells. Die große Meisterschaft des anspruchsvollen Werks liegt nicht zuletzt auch darin, eine gewaltige Geschichte aus einer ebenso lebensprallen wie lebensgefährlichen Ära zu erzählen, von der man weiß, wie sie enden wird. Da darf man abschließend eine Diagnose wagen: dass auch der dritte Band der Tudor-Trilogie den Booker-Preis gewinnt.

# Hilary Mantel: Spiegel und Licht (aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence); 1098 Seiten; DuMont Verlag, Köln; € 32

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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