INES BAYARD: SCHAM
Mit der sachlich nüchternen Schilderung eines sogenannten erweiterten Selbstmords beginnt
Inès Bayards Debütroman Scham. Der kleine Thomas im Hochstuhl und seine
Mutter Marie ebenfalls am Esstisch überleben das vergiftete Kompott nicht und Ehemann
Laurent es überleben wird, ist eher zweifelhaft.
Mit diesem radikalen Schlag in die Magengrube des Lesers eröffnet die junge Französin
ein beklemmendes und immer wieder nur schwer zu ertragendes Meisterwerk. Sie waren ein
aufstrebendes Paar aus gutbürgerlichen Kreisen, ihre Ehe nicht übermäßig romantisch
aber durchaus glücklich. Laurents Karriere als Scheidungsanwalt zeigte steil nach oben
und auch die 30-jährige Marie ist zufrieden als Vermögensberaterin einer Pariser Bank.
Bis zu jenem fatalen Tag, als sie nach Dienstschluss ihr Fahrrad demoliert vorfindet.
Zufällig kommt ihr großer charismatischer Chef hinzu und bietet ihr an, sie mit dem
Wagen nach Hause zu fahren. Und dann hört sie die Zentralverriegelung klacken und der
kräftige Mann fällt gnadenlos über sie her. Explizit wird der Leser zum bebenden Zeugen
einer höchst brutalen Vergewaltigung. Vaginal, anal und oral.
Nach der er sie kalt zum Schweigen verdonnert, sonst werde er sie und ihren Mann
fertigmachen. Der ganz persönlichen Apokalypse folgt die hilflose Heimkehr, wund an Seele
und Körper, verwirrt, aus der festgefügten Welt geschleudert. Und über allem diese
entsetzliche Scham. Und wie soll sie Laurent damit begegnen, was ein anderer Mann sich an
und von ihr genommen hat?
Und dies ist der Moment, an dem sie die letzte kleine Chance verrinnen lässt, wenigstens
eine Hoffnung auf eine Rückkehr ins Leben zu retten. Sie schweigt. Laurent kommt spät
von einem wichtigen Termin heim und am nächsten Abend drängt er frohgemut und mit
leidenschaftlichem Drang auf Sex. Der war stets sehr erquickend gewesen und schließlich
wollen sie doch endlich ein Kind.
Marie fühlt sich von ihrem Mann ein zweites Mal vergewaltigt. Dabei meint er
in seiner Ahnungslosigkeit besonders gut, doch: Er bemerkte nicht, dass diese zweite
schwere Prüfung für seine Frau das unumstößtliche Ende jedes Kompromisses
bedeutet. Nach außen bleibt alles scheinbar wie immer, in Marie aber wächst
giftige Galle. Und das Martyrium erfährt seine ultimative Steigerung: sie ist schwanger.
Ein einziger Gedanke quält sie von nun an: die Überzeugung, dass in ihr die Frucht der
Vergewaltigung heranwächst. Als sie das Kind nach 13 Stunden Wehen zur Welt bringt
die Schilderung dieses Vorgangs ist von quälender Intensität empfindet sie nichts
als Ekel für das Neugeborene.
Dazu schrillt immer wieder dieser Satz aus Elfriede Jelineks Roman Lust (1989) in
ihrem Kopf: So steht die Frau still wie eine Klomuschel, damit der Mann sein
Geschäft in sie hineinmachen kann. Genau so lässt sie die ehelichen Pflichten
über sich ergehen, während sie das Kind derartig vernachlässigt, dass es sogar darüber
krank wird.
Eine bleierne Zeit, die immer unerträglicher wird. Bis Laurent offenbar misstrauisch wird
und eine Eskalation droht. Die Marie mit ihrem finalen Akt tiefsten Grolls mit Gift
beendet. Erschlagen und beklommen legt man diesen Roman dann zur Seite und weiß, man hat
ein brachiales Meisterwerk gelesen. Sprachlich ebenso explizit wie souverän erzählt und
von der Art, die man vermutlich kein zweites Mal lesen kann, da es ohnehin intensiv
nachhallt.
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