ADAM HIGGINBOTHAM: „MITTERNACHT IN TSCHERNOBYL“


Samstag, 26. April 1986, Atomkraftwerk Tschernobyl, UdSSR: kurz nach Mitternacht beginnt endlich der seit zwei Jahren ausstehende Test der Notstromversorgung in Reaktor-Block IV. Durch ein Missverständnis war der zuständige Sicherheitsphysiker nicht zugegen, sodass der unerfahrene 25-jährige Kontrollingenieur Leonid Toptunow die entscheidenden Schaltungen vorzunehmen hatte.
Um 00:28 Uhr unterläuft Toptunow ein gravierender Fehler bei der Umschaltung innerhalb der Reaktorleistungsregelung. Als der Reaktor aus dem Ruder zu laufen droht, will der Ingenieur gegensteuern, das jedoch unterbindet der stets unerbittliche stellvertretende Chefingenieur Djatlow. Der Reaktor macht sich quasi selbständig und im Nu übersteigt seine Wärmeleistung das Hundertfache des Nennwertes.
Um 01:23:40 Uhr gibt es eine gigantische Explosion, der Kettenreaktionen folgen. Die Brennelemente erhitzen sich rasend schnell auf weit über 3000° und es kommt zur Komplettzerstörung des Reaktorkerns. Etwa 7 Tonnen Uranbrennstoff mit den gefährlichsten Substanzen, die dem Menschen bekannt sind, fliegen mit einer irisierenden Feuersäule in den Himmel. Das ist der GAU.
Und alles, was davon bisher bekannt war, wird von den Tatsachen noch weit übertroffen. Das erfahren wir aus dem Sachbuch des britischen Spitzenjournalisten Adam Higginbotham unter den Titel „Mitternacht in Tschernobyl. Die geheime Geschichte der größten Atomkatastrophe aller Zeiten“. Zehn Jahre hat er dafür recherchiert und rund 80 Interviews mit Überlebenden oder deren Freunden geführt. Entscheidend für die Relevanz dieser umfassenden und höchst detaillierten Ausführungen aber sind die vielen bis dato als geheim geführten Dokumente, die er auswerten konnte.
Die eingangs geschilderten Ereignisse waren dabei erst der Afutakt und die Dramatik steigert sich in den folgenden Tagen derartig, dass am 1. Mai 1986 die radioaktiven Freisetzungen und die Hitze so drastisch in die Höhe gehen, dass sogar die Kernschmelze droht. Und damit ein Inferno mit schlimmsten Folgen für Millionen von Menschen und große Landstriche in ganz Europa.
Chaos und Panik herrschen in und an Block IV und im gesamten Umkreis und dabei ist vielen Akteuren geraume Zeit nicht einmal klar, dass der Reaktor komplett zerstört ist und in seinem Innersten ein wahres Höllenfeuer tobt. Draußen aber versuchen Feuerwehrleute, Soldaten und Kraftwerkarbeiter, das Inferno einzudämmen – mit teils unglaublich primitiven Mitteln gegen total verstrahltes Material. An der Werkskantine werden unfassbare 2080 Röntgen/Stunde gemessen (schon 30 gelten als lebensbedrohlich!), die Einsatzkräfte waten im radioaktiv verseuchten Wasser und hunderte fangen sich innerhalb Minuten lebensgefährliche Strahlendosen ein.
Doch selbst als nach 32 Stunden endlich die Evakuierung der nur drei Kilometer von Block IV entfernt liegenden, eigens für den Betrieb des Atomkraftwerks gebaute Stadt Prypjat befohlen wird, hält die Sowjetführung die Katastrophe weiter geheim.
Erst am Montag, dem 28. April, gibt es am schwedischen AKW Forsmark Strahlenalarm und es soll sofort evakuiert werden. Bis klar wird, dass dieser Fallout aus der Sowjetunion stammen muss. Und erst etwa zur selben Zeit erfährt in Moskau Generalsekretär Michail Gorbatschow vom vollen Umfang der Katastrophe. Als die TASS an diesem Abend erstmals in Funk und Fernsehen von einer „Havarie“ berichtete, gibt es im Westen Empörung wegen der versäumten Meldung der Strahlenwolken und die Medien überschlagen sich mit Horrormeldungen auch über die angeblichen tausende von Todesopfern.
Higginbotham schildert auch das Leiden der tatsächlichen Opfer so packend und zugleich sachlich wie die übrigen Fakten. Zu denen auch die Chronik Tschernobyls gehört. Der Reaktortyp RBMK-1000 gilt als der fortschrittlichste im wissenschaftsgläubigen Sowjetreich, hatte jedoch systemimmanente Tücken und galt als schwer steuerbar. Hinzu kamen haarsträubende Mängel beim Bau durch fehlende hochwertige Materialien. Und die vom politischen System geprägte Schlamperei ging so weit, dass Block IV keine Kuppel als Bedachung hatte und dass er – um die befohlene Fertigstellungsfrist am 31. Dezember 1983 halten zu können – ohne Sicherheitstests für die lebenswichtigen Turbinen gestartet wurde.
Doch Higginbotham geht auch auf die politischen bzw. historischen Dimensionen der Katastrophe ein, von der Nikolai Ryschkow, Vorsitzender des Ministerrats, später zugab, sie sei gewissermaßen unvermeidlich gewesen und wenn nicht in Tschernobyl dann irgendwann in einem der anderen der serienmäßig gebauten, komplexen RBKM-1000.
Der Autor reißt mit seinem Buch den Schleier vom ganzen Ausmaß des Desasters, das bisher durch Propaganda, Geheimhaltung und Fehlinformationen verborgen war. Und trotz Gorbatschows erstmals zaghaft praktizierter Glasnost als ein weiterer Sargnagel für den Zusammenbruch der Sowjetunion wirkte.
Mit seinen plastischen Beschreibungen und fesselnden Szenen liest sich dieses Buch wie ein gut gemachter Hollywood-Katastrophenfilm, doch alles ist gründlich recherchiert und echt. Fazit: ein brillant gemachter Realthriller, nach dessen Lektüre jeder vernünftige und verantwortlich denkenden Mensch nur noch den Atomausstieg fordern kann – sofort und weltweit.

# Adam Higginbotham: Mitternacht in Tschernobyl. Die geheime Geschichte der größten Atomkatastrophe aller Zeiten (aus dem Englischen von Irmengard Gabler); 614 Seiten, div. Abb.; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 25

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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