PAULUS HOCHGATTERER: „FLIEGE FORT, FLIEGE FORT“


Rache braucht zuweilen ihre Zeit. Wie in Paulus Hochgatterers jüngstem Roman „Fliege fort, fliege fortg“, mit dem der österreichische Erfolgsautor und Kinderpsychiater nach langer Pause wieder in die fiktive Kleinstadt Furth am See führt.
Am Anfang steht eine beklemmende Szene aus der Vergangenheit, in der ein flüchtender Junge wieder eingefangen und vom Direktor des Kinderheims – allgemein „die Burg“ genannt – brutal gezüchtigt wird. In der Gegenwart dagegen bekommen es die aus den früheren Fällen bekannten Ermittler, der Psychologe Raffael Horn und der örtliche Kriminalkommissar Ludwig Kovacs mit einem seltsamen Phänomen zu tun.
Erst wird ein alter Mann ins Krankenhaus eingeliefert, der Anzeichen einer schweren Prügelei aufweist. Er aber insistiert darauf, aus einem Apfelbaum gefallen zu sein. Dann ist da die betagte Ordensschwester Notburga, die beinahe an ihrem Mittagessen erstickt wäre. Nach dem Magenauspumpen muss man jedoch davon ausgehen, dass ihr jemand gewaltsam große Mengen Katzenfutter in den Rachen gestopft hat.
Dann wäre da noch der stadtbekannte Säufer mit einer zweifelhaften Kopfwunde und einem Neo-Nazi vom Ordnungsdienst „Aktion 18“ wird per Zwille eine Stahlkugel an den Schädel geschossen. Wirklich zum Kriminalfall wird diese seltsame Häufung von Gewaltdelikten jedoch erst, als auch noch die Schülerin Elvira entführt wird, Tochter eines örtlichen Unternehmers. Wo bald schlimmste Befürchtungen aufkommen, denn es erfolgen keinerlei Lösegeldforderungen.
Es gibt eine Fülle von Protagonisten und gleich vier Handlungsstränge und der Leser möge aufmerksam sein, denn auch kleine, vermeintlich nebensächliche Hinweise haben ihre Bedeutung. Vor allem aber eröffnet der einzige Ich-Erzähler eine sehr eigene, bedrückende Perspektive: diese Person ist der Entführer. Der das Mädchen pfleglich behandelt, ihm Erlebnisse aus der eigenen Gefangenschaft als Kind erzählt und nur eines von ihm verlangt – es muss das Kerkerlied des Gretchen aus Goethes „Faust“ Teil I auswendig lernen.
Dessen Schlusszeile lautet „Fliege fort, fliege fort“ und das ganze Lied soll Elvira nach ihrer Freilassung ihrem Großvater vortragen. Der aber war einst der Direktor der „Burg“ und ergötzte sich an seinem System von Ritualen, mit denen er seinen Schutzbefohlenen körperliche und seelische Qualen zufügte. Wobei ihm die gestrenge Ordensschwester Notburga half, bei der alles aufgegessen werden musste, was auf den Teller kam. Gegebenenfalls auch zweimal.
Zunehmend schälen sich Motive für die aktuellen Geschehnisse heraus, zugleich aber eröffnen sich auch ganz andere, sehr gegenwärtige garstige Gegebenheiten. Wie die jetzige Nutzung der „Burg“ als Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, in dem die Schwarzgekleideten von der „Aktion 18“ (man achte auf den 1. und den 8. Buchstaben des Alphabets!) für die Ordnung zuständig sind...
Dieses Furth am See stellt einen Kosmos von beklemmend dunkler Schattierung dar, der einem gleichwohl in vielen Nuancen erschreckend bekannt vorkommt. Und Hochgatterer als Meister von Sprache, Atmosphäre und Charakterzeichnungen hat aus all dem einen brillanten literarischen Krimi geschaffen, der lange nachhallt.

# Paulus Hochgatterer: Fliege fort, fliege fort; 283 Seiten; Deuticke Verlag, Wien; € 23

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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