WILLIAM MELVIN KELLEY: EIN
ANDERER TAKT
William Melvin Kelley (1937-2017) war eine Zeit lang ein erfolgreicher Schriftsteller in
den USA, der auch mehrere Priese gewann. Doch längst ist er fast vergessen und im
deutschsprachigen Raum kannte man nicht mal den Namen. Um so spannender liest sich sein
Debüt Ein anderer Takt, erst kürzlich wiederentdeckt und mit nun
57-jähriger Verspätung erstmals auf Deutsch.
Und er ist eine wahre Entdeckung, denn hier schreibt ein schwarzer Autor über einen
rätselhaften Exodus von Schwarzen, aber aus der Sicht der Weißen. Eingebettet in
das Geschehen ist die wilde Legende vom Afrikaner, einem Monster von Sklaven,
der bei seiner Anlandung trotz schwerer Ketten spektakulär flüchtet und erst mit
geballter Kraft der Weißen erledigt werden kann.
Nun aber schreibt man das Jahr 1957 und an einem Sommertag lässt Tucker Caliban, der
schmächtige Enkel des Afrikaners, eine ganze Wagenladung Salz zu seiner kleinen Farm
bringen. Unter den fassungslosen Blicken zahlreicher Schaulustiger verstreut er das Salz
wie Saatgut auf seinem Acker. Ebenso seelenruhig erschießt er alsdann sein Pferd und
seine Kuh, lässt sein haus in Flammen aufgehen und macht sich mit der hochschwangeren
Ehefrau, dem Kind und nur einem roten Koffer auf den Weg, fort aus dem kleinen Städtchen.
All das passiert unter den Augen der Einheimischen, doch mit solch stoischer
Selbstverständlichkeit, als wären die weißen Männer gar nicht vorhanden.
Tucker Calibans aus deren Sicht völlig unbegreifliches Tun bleibt allerdings keine
Einzeltat, sondern wirkt als Signal, denn in den folgenden Tagen brechen überall in
diesem anonymen Südstaat sämtliche Afroamerikaner kommentarlos auf und ziehen fort. So
verliert der Staat ein Drittel seiner Bevölkerung.
So zweigeteilt wie die grundsätzliche Haltung der übrig gebliebenen, nun sein weißen
Bevölkerung von liberal bis rassistisch ist dann auch deren Bewertung. Die Einen äußern
eine selbstgefällige Befriedigung, während anderen unbehaglich wird, denn sie erkennen,
dass mit den schwarzen Mitbürgern auch Arbeitskräfte und Kaufkraft verschwunden sind.
Die Auswirkungen kochen schließlich in Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit bis zu einer
finalen Explosion hoch, der eigentliche Höhepunkt jedoch ist dieser Exodus an sich.
Mit raffinierter Dramaturgie und der authentischen Atmosphäre der Südstaaten in den 50er
Jahren sorgt Kelley für hohe Spannung. Wenn sich dieser Roman damals dennoch schwertat,
eine beite Leserschaft zu finden, lag das weniger an dem beißenden Sarkasmus als an dem
Widerspruch, dass hier ein schwarzer Autor beschriebt, was Weiße über Schwarze
denken. Das erklärt die New Yorker Literaturkritikerin Kathryn Schulz in ihrem
Vorwort zur Wiederentdeckung Kelleys.
Ein Lob zu zollen ist im Übrigen der hervorragenden Übersetzung durch Dirk van Gunsteren
und man kann ihm nur dankbar sein, dass er auch Begriffe wie Neger und
Nigger des Originals beibehalten hat. Die waren zur Entstehungszeit des Romans
normaler Sprachgebrauch und die späteren, zum Teil arg gestelzten Umschreibungen hätten
hier schlicht das Ergebnis bei einem Werk von 1962 verfälscht. Fazit: die späte
Entdeckung eines Meisterwerks, das zudem eine überraschende Aktualität offenbart.
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