ILDIKÓ von KÜRTHY: ES WIRD
ZEIT
Judith Rogge wird bald 50, die drei Kindern sind quasi flügge, der Ehemann ist ein
grundsolider Langweiler und sie empfindet sich als in eben jener Lebensphase, wo
man sich fragt, ob da wohl noch irgendetwas Reizvolles kommen könnte.
Seit 20 Jahren lebt sie nun mit der Familie in Wedel bei Hamburg, als der Tod ihrer Mutter
sie aus der gedämpften Routine reißt. Damit beginnt denn auch der jüngste Roman von
Erfolgsautorin Ildikó von Kürthy unter dem Titel Es wird Zeit. Judith muss
ins rheinische Jülich fahren, um dort die Urne ihrer Mutter zu bestatten und das
Elternhaus zu verkaufen.
Die Mutter tot, die Kinder weg, die Ehe am Ende, hatte Freundin Martina
resümiert in ihrer norddeutsch pragmatischen Art. Was Judith nun intensiv durch den Kopf
geht und einmal einmal mehr erweist sich die Autorin als Meisterin der langen
Abschweifungen mit ebenso lebensklugen wie sarkastischen Beobachtungen. Ehemann Johannes
war seinerzeit eher eine Kompromisslösung. Rein objektiv gesehen geht es ihnen richtig
gut, wenngleich das großzügige Haus eigentlich nur nach seinem Geschmack ist.
Doch die Rückkehr in den Heimatort bringt auch die so lange gescheute Wiederbegegnung mit
einer Person, der gegenüber es ein Geheimnis und ein schlechtes Gewissen gibt: Anne
und Judith, beste Freundinnen. Für mehr als die Hälfte unseres Lebens. Viel alte
Vertrautheit ist gleich wieder da bis hin zum Neid auf den idealen Ehemann, den Anne
damals gefunden hatte.
Der sich jedoch als Schuft erwiesen hatte: Jetzt wohnt mein Ex-Mann in meiner
Ex-Wohnung mit meinem Ex-Hund. Was jedoch längst zur Nebensache geworden ist, denn
Anne hat Krebs und weiß nicht, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Für Ich-Erzählerin Judith
mit dem selbst-zweiflerischen Ego - Ich habe durchaus Körperteile, die das Licht
der Öffentlichkeit zu recht scheuen - gibt es aber nicht nur ein Wiederentdecken
tiefer freundschaftlicher Gefühle, denn Heiko taucht auf.
Ausgerechnet Heiko Schmidt, ihr alter Jugendschwarm, der sie beim Nachhilfeunterricht
entjungfert und später schmählich hatte sitzen lassen, kommt als Makler, um das
Elternhaus zu kaufen. Nicht nur er empfindet neue Gefühle, auch für Judith meldet sich
endlich wieder etwas lange Vermisstes: etwas Reizvolles wie Schmetterlinge im Bauch.
Wichtiger als die Liebelei jedoch erblüht die Freundschaft in der Furcht des möglichen
baldigen Verlustes neu. Von Erinnerungen und Irrtümern wird zu reden sein, von Hoffnungen
und vom Vertrauen. Ildikó von Kürthy breitet den ganzen Kosmos zweier Leben mit all
seinen Befindlichkeiten aus und das mit solch treffsicheren Formulierungen, dass diese
Rückschau nie peinlich oder gar langweilig wird.
Männer werden übrigens ziemlich umfassend mit entlarvender Präzision als von gestern
oder gar schlimmer gekennzeichnet, bieten allerdings nicht die alleinige Plattform für
allerlei zum Schmunzeln. Zugleich kredenzt dieser Roman sprachlich einen Hochgenuss mit
manch funkelnden Sätzen. Fazit: ein wunderbares Buch mit viel Verstand und noch mehr
Herz.
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