ISABEL ALLENDE: „DIESER WEITE WEG“

 
Im August 1939 tat sich Großartiges im Hafen von Bordeaux: über 2000 katalanische Flüchtlinge legen mit dem umgebauten Frachtschiff „Winnipeg“ ab, um in ihre neue Heimat zu reisen. Und der das kleine Wunder in Gang gesetzt hat, ist ein mit seinen 34 Jahren bereits berühmter Dichter, der hier in Staatsdiensten als Konsul tätig wurde: Pablo Neruda.
Dieses historisch belegte Ereignis war der chilenisch-amerikanischen Bestsellerautorin Isabel Allende schon lange bekannt, nun aber machte sie daraus den ebenso mitreißenden wie bewegenden Roman „Dieser weite Weg“. Er setzt ein Herbst 1938 mit Victor Dalmau ein, der nach drei Jahren Medizinstudium jetzt als Sanitäter in einem Feldlazarett der Republikanischen Armee mit dem täglichen Grauen des Krieges zu tun hat.
Sein Bruder Guillem kämpft an vorderster Front gegen Francos Nationalisten, während in der Familie Dalmau in Barcelona seine Braut Roser, angehende Pianistin aus ärmsten Verhältnissen und jetzt hochschwanger, um ihn bangt. Als die für ihre barbarischen Säuberungsaktionen in eroberte Gebieten berüchtigten Nationalisten Ende 1939 auf Barcelona marschieren, gehen über 500.000 Katalanen auf die „Retirada“, eine qualvolle Flucht durch die winterlichen Pyrenäen.
Auch Victor, seine Mutter und Roser sind unter ihnen und mehr tot als lebendig erreichen sie das rettende Frankreich. Wo die Flüchtlinge jedoch als „rotes verbrecherisches Gesindel“ alles andere als erwünscht sind und in Elendslagern dann fast 15.000 von ihnen in der Eiseskälte dieses Winters umkommen. Es sind Quäker, die schweizerische Krankenschwester Elisabeth Eidenbenz (1913-2011) und schließlich der glühende Linke Neruda, die in diesem Elend zu Lichtblicken werden.
Roser, die vom Tod ihres Liebsten erst später erfährt, bringt im Heim der Schweizerin Sohn Marcel zur Welt. Als es Victor gelingt, ein Visum bei Neruda zu ergattern, kann er Roser aber nur unter einer Bedingung mitnehmen: sie müssen heiraten. Den Tag der Abfahrt der „Winnipeg“ wird der spätere Literatur-Nobelpreisträger Neruda wie die meisten Flüchtlinge stets als den wichtigsten in seinem Leben bezeichnen.
Chile wird zu der Zeit von einer Volksfrontbewegung regiert, doch es gibt auch extrem gegensätzliche Strömungen und den Exilanten schlägt im verstaubvten, streng katholischen Chile das Vorurteil einer „Horde von Roten, Atheisten und mutmaßlichen Verbrechern“ entgegen. Neruda aber behält recht, dass die katalanischen Familien für die geistig-kulturelle Entwicklung des Landes ein Segen würden.
Victor und Roser gehen mit großem Ehrgeiz an ihre neue Existenz, er bald als anerkannter Arzt und sie als Pianistin. Und sie sind einander eng verbunden in ihrer sehr speziellen geschwisterlichen Ehe – deren Auflösung juristisch in Chile im Übrigen verboten ist. Die weitere Entwicklung hat nun auch intensiv mit einem anderem Zweig des Erzählten zu tun, der alteingesessenen Familie del Solar.
Typisch für diese reichen Oberschichtler steht Oberhaupt Isidro rechts, während seine Frau nach sechs pflichtgemäßen Kindern nur noch frömmelt. Sohn Felipe schlägt mit liberalem Denken aus der Art, wogegen die wilde Tochter Ofelia das verwöhnte Püppchen spielt. Und nach einer heftigen heimlichen Affäre mit dem von Alpträumen aus den Kriegszeiten geplagten Victor wegen ihrer Schwangerschaft Übles erleiden muss. Hier wird Isabel Allende ätzend gallig in ihren Schilderungen typischer Machenschaften von Oberschicht und katholischer Kirche in Person eines zymisch-intriganten Geistlichen.
Doch es ziehen ganz andere düstere Wolken am Himmel auf, denn der linke Minister Salvador Allende, mit dem Victor eine Schach-Freundschaft verbindet, gewinnt 1970 die Wahlen. Schonungslos nüchtern beschreibt die Autorin – die das Alles ja selbst miterlebte – sowohl die jubelnde Aufbruchstimmung im Volk wie auch all die Entwicklungen, die zu Chaos und Nidergang im Land führten.
Und wie Militäörputsch und Dikatur erneut auch Victor ins Elend reißen. Obwohl nicht wirklich politisch und als Arzt eine anerkannte Koryphäe, landet auch er als malträtierter Gefangener im Lager. Dennoch gelingt ihm zum zweiten Mal im Leben die Flucht ins Exil, diesmal nach Venezuela. Dem Isabel Allende hier eine Liebeserklärung zukommen lässt, denn das Land nahm in der größten Not damals freimütig viele Exilanten auf, unter anderen auch sie selbst.
Aber auch die viel spätere Heimkehr nach Santiago bietet noch große Momente, denn die Geschichte der von Beginn an ungewöhnlichen Verbindung von Victor und Roser hat viele fesselnde Momente. Und man spürt in Allendes impulsiver Erzählweise das Herzensanliegen dieser Geschichte vor historischem Hintergrund. Zugleich offenbart diese eine besonders bittere Ironie: all die Strapazen, Demütigungen und Quälereien, die Victor Dalmau in den 30er wie in den 70er Jahren durchmachen musste, erlitt er jeweils für sein Handeln im Dienste einer demokratisch gewählten Regierung.
Fazit: ein grandioses Alterswerk einer großen Autorin, das lange nachhallt. Und das sie inhaltlich wie auch mit den jeweils vorangestellten Gedichtfragmenten zugleich zu einer Hommage an Pablo Neruda gemacht hat.

# Isabel Allende: Dieser weite Weg (aus dem Spanischen von Svenja Becker); 382 Seiten; Suhrkamp Verlag. Berlin; € 24

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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