NORBERT ZÄHRINGER: „WO WIR WAREN“


In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 1969 betrat mit Neil Armstrong erstmals ein Mensch den Mond. Weltweit verfolgten Abermillionen die Fernsehübertragung und noch heute wissen die meisten Augenzeugen, wo sie in diesen Stunden waren, als die Menschheit in eine neue Dimension vordrang.
Genau um diesen Gedanken hat Norbert Zähringer seinen neuen Roman aufgebaut und der heißt denn auch konsequenterweise „Wo wir waren“. In den Mittelpunkt stellt er darin den fünfjährigen Hardy Rohn und seine Mutter Martha, die das die Welt fesselnde Ereignis jeder auf seine Weise zu einem Versuch nutzten, Schlimmes hinter sich zu lassen und in die Freiheit aufzubrechen.
Hardy versucht gemeinsam mit einem größeren Jungen aus dem Waisenhaus zu fliehen, in dem er von klein auf lebt. Und leidet wie ein Hund, denn der Heimleiter ist ein brutaler Menschenschinder und das übrige Personal kaum besser. Die Jungen nutzen die Fernsehübertragung, die die Wachhabenden völlig ablenkt. Nicht viel später wird klar, dass die Flucht misslingt und die barbarische Höchststrafe fällig wird: Einzelhaft in einem finsteren alten Weinfass im Keller.
Dass seine Mutter zur selben Zeit ebenfalls eine Flucht per Selbstmordversuch inszeniert, weiß er ebenso wenig wie dass sie überhaupt existiert. Bei seiner Geburt saß sie bereits als Giftmörderin verurteilt im Zuchthaus und musste ihn nach wenigen Tagen mit unbekanntem Verbleib abgeben. Ja, sie hatte ihren Ehemann wirklich umgebracht, doch so wie man es hier erfährt, kann man gut verstehen, warum sie sich dieses selbstgefälligen Scheusals nur so entledigen konnte.
Doch es gibt noch weitere Erzählstränge in dieser sehr dichten, mitreißenden Prosa und die führen zu Parallelen aber auch in andere Zeitebenen. Da wird die Vorgeschichte Marthas samt der ihres Vater eingeflochten, der einst aus eben jenem Ort im Rheingau wegging, in dem die Tochter nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtling nur ungern gelitten war. Und es geht auch in die Zukunft, in der der längst erwachsene Hardy trotz der schlimmen Kindheit Karriere bis hin zum millionenschweren IT-Erfinder in Kalifornien gemacht hat.
Die Verknüpfungen gehen noch weiter und alle haben mit Aufbruch und Flucht zu tun, mit Leiden und Hoffen bis hin zu jenem US-Piloten, der Hardys Erzeuger war und ihn doch nie kennengelernt hat. Gemeinsam mit einem ebenfalls über Nord-Vietnam abgeschossenen Kameraden versucht er just in jener Nacht des Juli 1969 der Hölle eines Gefangenenlagers des Vietkong zu entkommen.
Es ist ein komplexes Romangebilde, das jedoch so meisterhaft konstruiert ist, dass alle Fäden gleichsam parallel und zugleich zusammenlaufen. Bei all dem wird das ferne sensationelle Geschehen auf dem Mond immer wieder eingeflochten und diese großartige Mischung macht diesen intelligenten Roman zu einem lange nachhallenden Lesegenuss für Herz und Verstand.

# Norbert Zähringer: Wo wir waren; 511 Seiten; Rowohlt Verlag, Hamburg; € 25

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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