STEPHENSON/GALLAND: AUFSTIEG
UND FALL DES D.O.D.O.
Ich heiße Melisande Stokes und das ist meine Geschichte. Ich schreibe sie im Juli
1851 in London, England. Eigentlich gehöre ich aber weder an diesen Ort noch in diese
Zeit. In realiter kommt sie aus dem Boston unserer Tage, ist Spezialistin für ganz
alte und ausgestorbene Sprachen und erzählt, wie es zu ihrem Missgeschick gekommen ist.
Das allerdings ist ein ganzes Epos voller Irrwitz, zu dem sich Kultautor Neal Stephenson
mit Nicole Galland, bekannt für historische Romane, zusammengetan hat. Der Aufstieg
und Fall des D.O.D.O. lautet der Titel und dahinter verbirgt sich eine
Geheimbehörde der USA, die so geheim ist, dass Major Tristan Lyons vorerst nicht einmal
deren Namen verrät, als er die Harvard-Liguistin Dr. Melisande Stokes rekrutiert.
Sie soll alte Schriften übersetzen, die allesamt zu belegen scheinen, dass es früher
Magie und Hexen wirklich gab und eben Situationen, in denen Magie eine Tatsache des
Lebens war. Offenbar aber hat sich diese Fähigkeit in der Neuzeit massiv verflüchtigt
und durch ein noch herauszufindendes Ereignis 1851 gänzlich aufgelöst. Allmählich
jedoch weiht Lyons die neugierige Stokes in den Geheimauftrag ein.
Das Department of Diachronic Operations soll nicht weniger, als mit Zeitreisen
Einfluss auf die Vergangenheit und damit indirekt auf die Zukunft nehmen. Einen
entscheidenden Fortschritt steuert dazu der betagte MIT-Physiker Frank Oda bei, denn er
entwickelte nach dem Prinzip des (echten!) Experiments um Schrödingers Katze das ODEK.
Diese Hightech-Box setzt die Voraussetzungen für die benötigte Ontische
Dekohärenz-Kavität.
Es sei schon hier beruhigt: es wimmelt von physikalischen Begriffen und teils skurrilen
Abkürzungen, dennoch muss man nicht wissenschaftlich vorgebildet sein, um die
überbordend fantasievoll losgetretene Wissenslawine mit Genuss verfolgen zu können. Im
Übrigen helfen ein Glossar und ein umfangreiches Personen-Tableau im Anhang, obwohl
dadurch einiges vorab verraten wird.
Nun aber braucht man für die beabsichtigten Diachronischen Operationen auch Magie und da
meldet sich die ungarische Hexe Erszebet Kaparthy. Die wurde zwar schon 1832 geboren,
konnte sich aber durch ihre magischen Kräfte passend in eine höchst attraktive
37-Jährige verwandeln und mischt nun kräftig mit. Und spätestens mit ihr kommt auch
eine gehörige Portion teils derben Humors in die von Beginn an fesselnde Geschichte.
Wie sie General Schneider als ersten Versuch einer D.O. auf die Zeitreise schickt, ist
urkomisch beschrieben. Auch wenn der Trip für den bräsigen Nussknacker 1564 nackt in
einem ungarischen Dorf und dort umgehend auf dem Scheiterhaufen endet. Doch das D.O.D.O.
macht laufend Fortschritte und den Agenten werden periodengemäße Sprachen und
Kampftechniken beigebracht, schließlich geht es u.a. ins Konstantinopel um 1203, zu den
Wikingern im 10. Jahrhundert und auch andernorts kommt es zu teils haarsträubenden
Abenteuern.
Zumal jede Zeitreise äußerst gefährlich ist, denn Erszebets Fehler beim magischen
Entsenden können unangenehm werden, die bei der Rücksendung seitens der Hexe auf der
Gegenseite aber sogar tödlich enden. Die größte Gefahr droht allerdings durch eine
explosive Diachronische Scherung, falls zu schnell und zu massiv in den realen Zeitablauf
eingegriffen wird.
Vor Ort selbst wird es immer wieder heikel, wenn Lyons z.B. mit Rabauken im London zu
Shakespeares und Marlowes Zeiten ums nackte Leben kämpfen muss. Und dort von der im
Bordell arbeitenden irischen Hexe Grainne in unmögliche Situationen gebracht wird. Wobei
auf sämtlichen Ebenen Angehörige der Bankierssippe Fugger ein undurchsichtiges Spiel
treiben.
Während daheim das D.O.D.O. wächst und bürokratische Blüten samt
Geheimhaltungsparanoia hervorbringt, sorgen modernste Technik und ein regelrechtes
Hexennetzwerk für vermeintliche Fortschritte. Dennoch sitzt Ich-Erzählerin Stokes 1851
in London fest und die Magie all der Hexen scheint zu verrauchen. Oder? - Lassen Sie sich
überraschen von dieser hinreißenden und überaus intelligenten Wundertüte aus
Wissenschaftsthriller, Historienroman, ScienceFiction und genüsslicher Anwendung von
Fantasy-Elementen.
Die wechselnden Erzählperspektiven und die Spielereien mit Layout und Typografie sorgen
zusätzlich für Abwechslung und Sogwirkung sondergleichen und das vielfältige
Personentableau teils echter historischer Figuren bis hin zu nackten
Wikingern im Supermarkt bescheren ein wahres Meisterwerk des Absurden. Und die
hervorragende Übertragung auch all der kleinen eingestreuten Verrücktheiten der Autoren
trägt obendrein zu einem Lesevergnügen der besonderen Art bei.
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