EDOARDO ALBINATI: „DIE KATHOLISCHE SCHULE“


„Männlich geboren zu werden ist eine unheilbare Krankheit.“ Die um so üblere Folgen hat, wenn sie auch noch mit der Erziehung in einer römischen Priesterschule verbunden ist und das obendrein in 60er- und 70er Jahren im bigott verklemmten Italien.
Edoardo Albinati hat genau solch eine ziemlich typische männliche Jugend erlebt, doch erst ein das ganze Land erschütterndes Ereignis gab dem renommierten Schriftsteller den Anstoß zu einer ebenso radikalen wie kolossalen Rückschau, nachdem das berühmt-berüchtigte Verbrechen von Circeo vor einigen Jahren noch einmal hochkochte.
Was er unter dem Titel „Die katholische Kirche“ daraus macht, sucht seinesgleichen und wurde in Italien bereits mit hohen Preisen ausgezeichnet. Albinati war wie kein anderer prädestiniert, sich diesem Thema zu widmen, denn zwei der drei jungen Männer, die die bewusste Schandtat Ende September 1975 begingen, waren ehemalige Mitschüler der SLM, wie die überwiegend von Priestern geleitete „San Leone Magno“ in einem bürgerlichen Viertel Roms allgemein genannt wurde.
Die Täter lockten damals zwei unbescholtene Mädchen in eine Villa am Monte Circeo, wo sie sich mit ausgemachter Brutalität und primitivem Sadismus an der 17- und der 19-Jährigen austobten. Die Vergewaltigungen und Folterungen gingen so weit, dass das eine Mädchen daran starb und das andere sich sein Leben lang nicht mehr richtig davon erholte. Es waren die viehische Rohheit und die demonstrative Frauenverachtung, die das Geschehen zum Ausnahmeverbrechen machten.
Doch Albinati vermeidet jeden Voyeurismus, ja er komprimiert das Verbrechen sogar auf wenige Seiten, die zudem nicht einen Gipfelpunkt darstellen, auf den der Roman zusteuert. Und doch spielt das Wissen um diese Taten eine durchgehende unterschwellige Rolle, wenn der Autor, der die SLM selbst zwölf Jahre lang besuchte, die dort erlebte „schlechte Erziehung“ und ungeheuer viel mehr in einer geradezu delirierenden und zuweilen sogar nervtötenden Weitschweifigkeit reflektiert.
Als Ich-Erzähler, der in starkem Maße mit der Person des Autors kongruent ist, philosophiert er über Liebe und Sex. Immer wieder scheint er regelrecht einzutauchen in die ersten naiven Erfahrungen und all die so verwirrenden und viel zu unbekannten „genitalen Geheimnisse“. Unheilvoll wirkt sich das verklemmte Gebahren der Priester als Lehrer aus und Albinati macht kein Hehl daraus, was er von den Soutanenträgern hält: „Männer in Röcken hatten die Aufgabe, Jungs in Männer zu verwandeln: männlich auf ganzer Linie.“
Wie sehr sie und auch die anderen, zumeist ähnlich verqueren Lehrer versagten, war quasi vorgezeichnet: „Lustvoll wurde alles verunglimpft, was uns an Gutem, Richtigem, Heiligem oder Anständigem beigebracht worden war, angefangen bei den guten Manieren.“ Dazu passen eingestreute Pennälerreime mit teils drastischen Zeilen, wie der gesamte Roman ohnehin vor Sex und sexuellen Fantasien strotzt, als käme vieles aus dem brodelnden Gehirn eines von seinen Trieben gepeinigten Pubertierenden.
„Sex, egal ob als Wunschtraum oder tatsächliche Handlung, erschütterte das Sein bis in die Grundfesten.“ Doch die durch die Erziehung an der Priesterschule so wenig gefestigten Persönlichkeiten der gutbürgerlichen Schüler wurden zudem von den gesellschaftlichen Umständen geprägt, wo der Faschismus der Großelterngeneration ebenso virulent war wie die liberalen oder auch ganz linken Anwandlungen der jüngeren Generationen.
Der Nährboden für Verklemmungen, für eruptive Konfrontationen mit dem anderen, als nicht gleichwertig und zugleich bedrohlich empfundenen Geschlecht wurde hier gelegt. Eine Teenagerzeit, in der Gedanken und Emotionen wie angekettet um Sex, Religion und Gewalt kreisen, wabert hier und Arbus, der ominöse beste Freund des Ich-Erzählers, ist ein Musterbeispiel der charakterlichen Verbiegungen.
Das Alles lässt in diesem ausufernden und zugleich faszinierend schonungslos und intensiv ausgeleuchteten Sittengemälde eine ähnlich ungesunde gesellschaftliche Gemengelage erkennen, wie sie nicht nur in Italien derzeit erneut aufzukommen scheint. Fazit: ein außergewöhnlicher Roman, aber nicht nur durch den schieren Umfang schwere Kost und eine große Herausforderung. Ein besonderes Lob gebührt im Übrigen der großartigen Übersetzung durch Verena von Koskull.

# Edoardo Albinato: Die katholische Schule (aus dem Italienischen von Verena von Koskull); 1294 Seiten; Berlin Verlag, Berlin/München; € 38

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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