MECHTILD BORRMANN: „GRENZGÄNGER“


Zwei Prozesse bilden den Rahmen für Mechtild Borrmanns neuen Roman „Grenzgänger“. Der eine ist die Anhörung in Sachen Matthias Schöning im Frühjahr 1970 vorm Amtsgericht Aachen. Der andere beginnt im Herbst desselben Jahres, wo vorm Landgericht Aachen Henriette „Henni“ Bernhard, geborene Schöning, angeklagt ist.
Zugrunde liegen beiden Verfahren jedoch unheilvolle Ereignisse, die sich lange davor zutrugen. Als 1945 auch im Eifeldorf Velda nahe der deutsch-belgischen Grenze der Krieg zu Ende ging, freut sich die zwölfjährige Henni mit ihren jüngeren Geschwistern Johanna, Matthias und Fried, dass der Vater schon bald aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt. Doch die wenigen Monate als Soldat haben den so geschickten Uhrmachermeister völlig verändert.
Als Bombenentschärfer eingesetzt, überkommt ihn seither ständig ein unbeherrschbares Zittern der Hände. Er verliert den Job und ist auch für anderes untauglich. Stattdessen wendet sich der frömmelnde Katholik völlig der Bibel zu und lässt sich hingebungsvoll vom skrupellosen Pfarrer für brotlose Kirchendienste ausnutzen. Um nicht zu verhungern, verdingen sich Henni und ihre Mutter in einem Gasthof im nahen Monschau.
Bis der 18. April 1947 eine Kette des Unglücks in Gang setzt, als die Mutter plötzlich und unerwartet wegen einer Eileiterschwangerschaft zusammenbricht und auch eine sofortige Operation sie nicht mehr rettet. In seiner Lebensuntüchtigkeit noch vom Pfarrer angetrieben, will Vater Schöning seine Kinder nun in verschiedenen Kinderheimen unterbringen.
Was Henni mit energischer Gegenwehr tatsächlich verhindern kann. Sie schafft es auch, den Haushalt zusammenzuhalten und sie nutzt die Gunst jener ersten Jahre nach dem Krieg, als allenthalben im Grenzgebiet Lebensmittel geschmuggelt wurden. Schon immer eine Wildfang und bestens vertraut mit den Wäldern und Mooren ihrer Heimat, wird sie eine erfolgreiche Schmugglerin von Kaffee, Butter und Tabak.
Zunehmend mischen aber auch regelrechte Banden in dem lukrativen Geschäft mit, worauf die Zöllner mit immer größerer Härte reagieren. Inzwischen schreibt man das Jahr 1950 und Henni nimmt auch Johanna mit auf die Touren. Da schlägt das Schicksal erneut zu: Zöllner verfolgen sie im nächtlichen Schneetreiben, es fällt ein Schuss und Johanna ist tot. Womit sich für die überlebenden Kinder ein Weltuntergang auftut, denn der Vater, längst zu nichts anderem mehr gut als Beten, steckt die beiden Jungen in ein katholisches Kinderheim.
Henni aber kommt mit ihren 17 Jahren als Schwererziehbare in eine Besserungsanstalt und selbst, als sie mit der Volljährigkeit 1954 entlassen wird, schleicht ihr die „kriminelle“ Vergangenheit ständig nach. Was sie erstmals erfahren muss, als sie am mütterlichen Grab entdeckt, dass ihr Bruder Matthias inzwischen ebenfalls hier liegt. Der total abweisende Vater verweigert jede Auskunft und sie bekommt nur mühsam heraus, dass der Kleine angeblich im Heim an einer Lungenentzündung gestorben ist.
Wo und wie das passiert und wo Bruder Fried abgeblieben ist, darüber verweigern alle offiziellen Stellen jede Auskunft gegenüber der „Kriminellen“. Aber auch der Leser erfährt dank der meisterhaften Dramaturgie mit den Wechseln zwischen den Zeitebenen und Schauplätzen erst nach und nach den düsteren Verlauf der Lebenslinien von Henni und ihren Brüdern.
Vor dem sehr realen Hintergrund der unfassbaren Zustände in vielen deutschen Kinderheimen in den 50er Jahren breitet Mechtild Borrmann hier ihre zuweilen kaum erträgliche Geschichte aus. Da zieht ein Unglück das nächste nach sich und der Pfarrer wie auch die alles andere als barmherzigen Schwestern in dem katholischen Kinderheim sorgen endgültig für eine Elendsentwicklung, die jeder christlichen Haltung Hohn spricht und keines der Opfer ohne lebenslange psychische Schäden freigibt.
Das Wut erzeugende Sahnehäubchen auf derartige realistische Vorkommnisse setzen dann die Richter und Staatsanwälte in ihrer Ignoranz und spießigen menschlichen Unzulänglichkeit. Dieser ebenso beklemmende wie grandiose Roman kommt bei all dem nicht als dumpfe Anklageschrift daher sondern als ein Heimatroman der besonderen Art mit hohem Spannungspotential in einer fast altmodischen aber dennoch überzeugenden Prosa.

# Mechtild Borrmann: Grenzgänger; 284 Seiten; Droemer Verlag, München; € 20

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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