HANS LEISTER: DER
TUNNEL
Der 19. Mai 2018 war ein Samstag und dass er bereits der Vergangenheit angehört, ist das
Beruhigendste an Hans Leisters Thriller Der Tunnel, denn dadurch weiß man
wenigstens gewiss, dass all das hier Beschriebene wirklich nur fiktiv ist.
An diesem bewussten Samstag fährt der Neigetechnik-ICE mit dem Namen Friedrich
Dürrenmatt um 17:09 Uhr vom Bahnhof Basel in Richtung Luzern ab.
Triebwagenzugführer Martin Steppach schildert seine Vorbereitung auf die Fahrt durch den
mit 57 Kilometern längsten Tunnel der Welt, dem St. Gotthard-Basistunnel, kurz GBT
genannt. Für ihn ist es die Fahrt zur Erlangung der vollen GBT-Berechtigung, weshalb der
erfahrene SBB-Zugführer Duber mitfährt.
Eher gemächlich beginnt der Roman mit all diesen vor allem für Eisenbahn-Enthusiasten
interessanten Darlegungen. Wäre da nicht schon früh dieser kurze Einschub, dass Steppach
Basel wie auch sein Zuhause und seine Familie nie wiedersehen werde. Zugleich geht der
Blick auf den hochmodernen Zug, in dem rund 300 Passagiere sitzen. Darunter eine
Schulklasse aus Berlin-Wedding, 22 Zehntklässler mit ihrer resoluten Klassenlehrerin
Corinna Abramovicz.
Während der Zug mit 200 km/h in den 2016 eingeweihten, technisch raffiniert
ausgeklügelten Tunnel einfährt, wechselt der Blick zu einer der geheimsten Bunkeranlage
der Schweiz, dem Depot Verena. Reserve-Hauptmann Zumtobel tritt mit dem
Berufsoffizier Breitenacher und rund 200 Mann eine streng geheime Übung in den
weitläufigen Stollen an, wo die Bundes-Nahrungsmittelreserve eingelagert ist. Die
technischen Beschreibungen sind selbst für Laien sehr interessant, werden jedoch noch
übertroffen von denen über alles Eisenbahntechnische, denn Autor Leister war viele Jahre
Eisenbahnmanager, unter anderem bei der Deutschen Bahn.
Und dann setzt der Thriller ein, wenn auch zunächst nur mit scheinbaren
Betriebsstörungen. Kaum ist eine seltsame Unwetterwarnung im Bordfunk abgebrochen, geht
auch schon die Fahrstromanzeige auf Null, es gibt keinen Netzkontakt mehr und hier, mitten
im Tunnel, leuchtet nur noch das Notlicht. Eingedenk der technischen Finessen von Zug und
GBT bleiben alle Insassen erst einmal ruhig und warten auf Hilfe von außen.
Doch als auch der Notstrom ausfällt und die Vorräte zur Neige gehen, kommt Unruhe auf.
In dem sich allmählich steigernden Albtraum von Ungewissheit und Hilflosigkeit erweist
sich die chaosgestählte Berliner Lehrerin als wertvolle Führungsfigur, die ihre um die
16 Jahre alten Schüler geschickt als Ordnungskräfte einzusetzen weiß. Während sich an
diesem Schauplatz trotzdem die Stimmung durch Hitze und Urängste stetig verdüstert,
herrscht im Depot Verena anfangs lediglich eine gewisse Ratlosigkeit.
Tief im St. Gotthard-Massiv hatte man nur eine Art Ruckeln gespürt wie von einem leichten
Erdbeben. Auf den Überwachungskameras vor dem meterdicken Stahltor ist allerdings zu
sehen, dass das normale Außentor wie von einer gewaltigen Faust nach innen eingedrückt
ist. Mit gewisser Erleichterung wird jedoch festgestellt, dass die Messgeräte keinerlei
ABC-Strahlung anzeigen.
Während die Zugbediensteten unter Strapazen den GBT erkunden und erkennen müssen, dass
die näheren Südportale durch zerstörte Güterzüge offenbar bei der Einfahrt völlig
versperrt sind, kann die Mannschaft der geheimen Speisekammer der Schweiz ihre Anlage
jedenfalls nicht mehr durch den Haupteingang verlassen.
Doch das Bunkersystem hat noch andere Ausgänge und einer mündet in den GBT. Als man die
bereits schwer leidenden Zuginsassen entdeckt, heißt es sofort: Rettung von
Menschen vor Geheimhaltung. Womit eine nervenzerrende Rettungsaktion einsetzt. Die
aber nur eine Episode in dieser für alle so rätselhaften Katastrophe ist. Und in die
brodelnde Ungewissheit tröpfeln erste unheilvolle Entdeckungen der Erkundungstrupps:
draußen herrscht dauerhafte Dunkelheit und man findet nur Zerstörungen vor.
Alles ist von feinem Staub bedeckt und die wenigen Verletzten, die man bergen kann, leiden
unter quälendem Husten. Eine globale Katastrophe? Gibt es außerhalb noch irgendwo Leben
und wann wird es wieder hell? Immer mehr baut sich eine Spannung der ungewissen,
furchteinflößenden Art auf, die Leister mit seinem minutiösen und stets höchst
authentischen Schreibstil befeuert.
Und es gelingt ihm ein verblüffendes Schlusskapitel. Mag es im ersten Augenblick auch
seltsam und geradezu aufgesetzt wirken, wie es im Handumdrehen die Menschheitsgeschichte
gegen den Strich bürstet es lässt mindestens so nachdenklich zurück, wie der
gesamte Roman. Fazit: ein Geniestreich mit einer beunruhigend realistischen Grundidee,
dank authentischer Details und hervorragender Charakterzeichnungen ein intelligentes
Lesevergnügen. Und absolut filmreif sowieso.
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