LION FEUCHTWANGER: „EIN MÖGLICHST INTENSIVES LEBEN“


Lion Feuchtwanger (1884-1958) war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller und erfreute sich weltweiter Berühmtheit. Schon 1931 erklärte der längst arrivierte Vielschreiber allerdings auf Nachfrage, dass er nicht zu jenen Literaten zähle, die nebenher auch Tagebuch führen.
Solche im allgemeinen geschönten „Heeresberichte“ halte er für gänzlich überflüssig. Erst 1991 stellte sich heraus, dass Feuchtwanger in Wahrheit sogar ein regelmäßiger Tagebuchschreiber war. Im Nachlass von Feuchtwangers letzter langjähriger Sekretärin Hilde Waldo wurden Tagebücher von 1906 bis 1940 gefunden. Das Entziffern und Auswerten war jedoch außerordentlich kompliziert, denn der Schreiber nutzte zumeist die veraltete Gabelsberger-Kurzschrift, die heute kaum noch jemand beherrscht.
Nun aber in seinem 60. Todesjahr liegen die Aufzeichnungen komplett und mit erläuternden Zwischenerklärungen vor. Der Titel des umfangreichen Buches samt zahlreichen Schwarzweiß-Fotos lautet „Ein möglichst intensives Leben“ und er zitiert damit eine frühe Eintragung des noch nach seiner Karriere strebenden jungen Autors. Dass Feuchtwanger das Führen von Tagebüchern abstritt, nachdem er es zu diesem Zeitpunkt schon auf eine große Anzahl gebracht hatte, erklärt der Romancier Klaus Modick in seinem Vorwort für konsequent.
Feuchtwanger habe im Gegensatz zu manchen Kollegen ganz offensichtlich nie beabsichtigt, seine Tagebücher jemals zu veröffentlichen. Vielmehr seien sie absolut privat gewesen und sie gehen immer wieder explizit auch ins Intime. Ein weiterer Beweis dürfte die überwiegend sehr karge, oft im Telegrammstil gehaltene Prosa dieses ansonsten so feinsinnigen und sprachmächtigen Erfolgsautors sein.
„Feuchtwanger ohne Filter“ nennt Modick denn auch diese auf ihre Weise faszinierende Hinterlassenschaft, denn die Eintragungen sind ungeschönt und unverstellt. Da beklagt der Sohn aus wohlhabender orthodox-jüdischer Münchner Familie seine Spielsucht und zeitweise arg drückende Schulden. Ein pikantes Dauerthema aber bleibt von Beginn am Neujahrstag 1906 bis ins Fluchtjahr 1940 der schier unersättliche erotische Hunger des kleinen großen Künstlers.
In all den komplexen Beziehungslinien mit dem extrem ausschweifenden Sexualleben gibt es indes eine prächtige Konstante: Marta Löffler aus begüterter jüdischer Kaufmannsfamilie und ab 1912 bis zu seinem Tod seine Ehefrau und auch wichtige Beraterin in Alltags- und Literaturdingen. Sie folgt ihm 1910 bereits bald nach dem Kennenlernen sehr willig aufs Zimmer und schon bald schreibt der Genussmensch die vielsagende Charakterisierung ins Tagebuch: „Sie ist prachtvoll amoralisch, lebenslustig und jung.“
Das rauschhafte Leben des Autors von weltweit erfolgreichen Romanen wie „Jud Süß“ oder „Exil“ notierte jedoch ebenso seine vielen Begegnungen mit Künstlerkollegen. Es entstand eine innige Freundschaft mit Bertold Brecht und im Exil in den 30er Jahren, als Feuchtwanger wie so viele vor den Nazis geflohene Literaten im südfranzösischen Sanary-sur-Mer eine regelrechte Intellektuellenkolonie bildeten, kam es auch zur Annäherung an Thomas Mann.
Man erhält direkte Einblicke, wer mit wem konnte, aber mindetens so aufschlussreich werden Erlebnisse wie jener Besuch bei Stalin und eine folgenreiche Begegnung mit Amerikas First Lady Eleanor Roosevelt geschildert. Und es wird unangenehm spannend bei Kriegsausbruch, wo es dann am 16. September 1939 erstmals im Tagebuch heißt: „Ich muss morgen ins KZ“ - womit ein französisches Internierungslager gemeint ist.
Es darf durchaus spekuliert werden, ob es nach der letzten Tagebucheintragung vom 20. Mai 1940 kurz vor der abenteuerlichen Flucht aus Frankreich weitere Tagebücher gegeben hat. Spätestens Ende der 40er Jahre bei Ausbruch der McCarthy-Ära hatte Feuchtwanger seine Aufzeichnungen bei Hilde Waldo versteckt, weil er mit Verfolgungen und Anfeindungen wegen Kommunismusverdachts rechnen musste. Andererseits hatte Feuchtwanger auch mit Waldo offenbar intime Beziehungen und die wollte eventuell jede Öffentlichkeit darüber unterbinden.
Die Aufzeichnungen, die nun vorliegen, sind insbesondere in ihrer Offenheit und Unmittelbarkeit all der Einsichten und Erkenntnisse aus einem wahrhaft großen und rauschhaften Künstlerleben in außerordentlich bewegten Zeiten ein wahrer Schatz.

# Lion Feuchtwanger: Ein möglichst intensives Leben. Die Tagebücher; 639 Seiten, div. Abb.; Aufbau Verlag, Berlin; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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