URSULA K. LE GUIN:
ERDSEE
Wenn ein Buchprojekt Tolkiens Herr der Ringe an Glanz und Bedeutung nahekommt,
dann ist das der Erdsee-Zyklus von Ursula K. Le Guin (1929-2018), der großen
alten Dame der amerikanischen Fantasy- und ScienceFiction-Literatur. Vor 50 Jahren
erschien das erste Buch unter dem Titel Der Magier der Erdsee.
Zum Jubiläum gibt es nun Erdsee. Die illustrierte Gesamtausgabe in einem
opulenten Prachtband samt Schwarzweiß- und Farbillustrationen von Charles Vess. Die
Autorin schreibt dazu selbst, dass der Zyklus damit zum ersten Mal in vollem Umfang und in
der richtigen Reihenfolge vorliege und so erfülle sich endlich das, was sie in den von
1968 bis 2001 verfassten sechs Büchern nach der Vollendung sah: Erdsee als
eine einzige Geschichte.
Der große Band bietet außer der durch eine hervorragende Neuübersetzung höchst
gegenwärtig wirkenden Prosa eine faszinierende Besonderheit, denn Le Guin schrieb nicht
nur ein umfangreiches Vorwort mit interessantenh Einblicken in den Entstehungsprozess der
einzelnen Bücher. Jeder der sechs Teile erhielt außerdem eingehende Nachworte, die
Grundlinien und Feinheiten erläutern.
So erfährt man, dass es noch bevor die erste Geschichte um Ged entstand, den Schafhirten,
der zum Drachenmeister und Erzmagier von Erdsee aufstieg, die Autorin die allem
vorangestellte Karte dieser Inselwelt zeichnete. Auch erklärt sie, wie es bereits bei
Die Gräber von Atuan (1970) und Das fernste Ufer (1972) zu einer
Öffnung zu einer weiblicheren Sicht kam, als die Hohepriesterin Tenar und die
Drachentochter Tehanu hinzukamen.
Bis Le Guin nach einer 18-jährigen Pause mit anderen erfolgreichen Werken bewusst wurde,
dass die drei Weltbestseller von Erdsee nicht das Ende des Zyklus sein konnten. Doch als
1990 Tehanu erschien, gab es einen spürbaren geradezu feministischen
Perspektivwechsel. Wobei ohnehin festzustellen bleibt, dass allenfalls Band I mit seinen
sehr jugendlichen Protagonisten vorrangig ein jugendliches oder junges erwachsenes
Publikum anspricht.
Auch wenn dieser High-Fantasy-Klassiker neben Herr der Ringe nie einen
vergleichbaren Kult entwickelte, erzielte er gleichwohl weltweit Millionenauflagen. Wobei
es offensichtlich ist, dass Erdsee weniger Fantasiegestalten dafür aber
ungleich mehr philosophische Tiefe bietet, und dadurch trotz viel Spannung und hohem
Erfindungsreichtum nicht ähnlich massentauglich ist.
Le Guin stellt in den Nachworten dann auch einiges zu den Folgebänden klar. So brachte
sie als fünftes Buch Geschichten von Erdsee heraus und gab ihm den Untertitel
Das letzte Buch von Erdsee. Dabei sei dies kein eigentlicher Roman und
sie erkannte, dass da doch noch ein großer Abschluss schlummerte. Der dann erst mit dem
sechsten Buch unter dem Titel Der andere Wind 2001 erschien und Ged, Tehanu,
die spektakulären Drachen und andere wichtige Protagonisten zur Rettung von Erdsee
vereinigte.
Im Anhang offeriert Ursula K. Le Guin schließlich das, was den besonderen Zauber dieses
Zyklus ausmacht und seinerzeit ähnlich stilprägend wirkte wie Tolkiens Meisterwerke:
Eine Beschreibung von Erdsee. Ein ganzes Universum hat sie mit dieser
glaubhaft erfundenen Fantasiewelt geschaffen und schon lange vor Harry Potter gab es dort
eine Magierschule auf der Insel Rokh.
Geschrieben in mitreißend poetischer Sprache ist dieser Zyklus in dieser modernen und
umfassenden Form ein wahrer zeitloser Bücherschatz, der auch diejenigen anspruchsvollen
Leser fesseln und begeistern dürfte, die an sich kein Faible für Fantasy-Literatur
hegen.
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