GABRIEL TALLENT: MEIN EIN UND
ALLES
Gabriel Tallents Debütroman Mein Ein und Alles dürfte wohl das heftigste
Buch dieses Jahres sein und wer bei dem Titel an eine romantische Liebesgeschichte denkt,
liegt völlig falsch.
Im Mittelpunkt steht die 14-jährige Julia Alveston, von fast allen Turtle
gerufen. Nur ihr Vater Martin nennt sie meist Krümel. Mit dem attraktiven und
überaus charismatischen Hünen lebt sie in einem heruntergekommenen Haus in den
nordkalifornischen Wäldern nahe der Küste, seit ihre Mutter vor zehn Jahren ertrank.
Wenig zivilisiert geht es da zu, ihre Schlafkammer ist spartanisch und zum Frühstück
schlägt sie sich Eier auf, direkt in den Mund, während ihrem Vater eine Flasche Bier
genügt. Was es reichlich gibt, sind Feuerwaffen aller Art und Turtle ist bereits geübter
im Umgang damit als manch ein Soldat. Und so, wie manche Menschen als Angewohnheit mit
Gegenständen daddeln, nimmt sie mindestens einmal täglich ihre Sig Sauer-Pistole
auseinander und setzt wie wieder zusammen.
Verdammt, so kann ein kleines Mädchen nicht aufwachsen, schimpft denn auch
ihr Großvater, der in der Nähe in einem vergammelten Trailer wohnt. Doch er ahnt
allenfalls, wie unmöglich es zwischen dem großgewachsenen Mädchen und dem zu
sadistischer Brutalität neigenden Martin zugeht. Der liebt Turtle auf abgöttische Weise
und das heißt für diesen abgründigen Psychopathen auch, dass er sie jede Nacht sexuell
missbraucht. Unmissverständlich macht er ihr immer wieder klar, dass er sie eher töten
würde als sie zu verlieren.
Natürlich führen diese Lebensumstände dazu, dass Turtle eine schlechte Schülerin ist.
Ihre Klassenlehrerin Anna bemüht sich um sie und spürt, dass diese Attitüde von
übertriebener Vorsicht, Abschottung und Frauenfeindlichkeit sehr ungute Gründe haben
muss. Doch das ist das Perfide an der Situation des abgehärteten und von galligem
Selbsthass durchsetzten Mädchens: trotz aller Misshandlungen und Demütigungen liebt sie
ihren Vater als einzige Bezugsperson.
Als intelligenter Aussteiger und Philosoph betört er sie zuweilen mit klugen Worten und
sogar zärtlichen Anwandlungen. Um dann als kontrollsüchtiges Monster sogleich wieder mit
unfassbaren Gemeinheiten seine absolute Herrschaft über sie zu demonstrieren, begleitet
von finsteren Liebeserklärungen: Du wurdest immer geliebt, Krümel, innig und
bedingungslos.
Klaustrophobischen Szenen von unbegreiflicher Gefühllosigkeit stehen aber auch
faszinierende Beschreibungen der Natur gegenüber, in der sich Turtle bestens auskennt. In
ihrer Hassliebe sehnt sie sich insgeheim danach, ihre Würde wiederzugewinnen und es
wütet eine harte Gewissheit in ihr: Es gibt einen Teil von mir, an den du wirklich
niemals herankommen wirst. Und es kommt zu einer Begegnung in der ihr so vertrauten
Wildnis, die manches in Bewegung setzt.
Sie lernt Jacob kennen, wenig älter als sie, und er gefällt ihr zunehmend. Obendrein
geht ihr auf, dass es auch eine normalere Welt als die ihre gibt. Als Martin
dahinterkommt, rastet er erwartungsgemäß aus und es entspinnt sich ein barbarischer
Showdown, wie bisher schon von kaum zu überbietender Intensität. Nur so viel sei von
diesem ungeheuer dichten Geschehen noch verraten: wenn Turtle ihr inneres wie äußeres
Gefängnis aus Selbsthass und Ekel endlich hinter sich gelassen hat, ist sie so gebrochen,
dass ihre Zuflucht das Anlegen eines Ziergartens in der Stadt wird.
Über Jahre hat Gabriel Tallent an diesem grandiosen und zugleich immer wieder auch schier
unerträglichen Roman geschrieben. Im spannungstreibenden Präsenz verfasst und einem
überaus rüden, aber eben deshalb auch authentischen Ton gehalten, kann man Stephen King
wahrlich beipflichten, dass dies ein Meisterwerk ist mit einer der außergewöhnlichsten
Romanheldinnen der letzten Jahre. Zartbesaitete sollten dieses allerdings unbedingt
meiden.
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