JULI ZEH: NEUJAHR
Vom Umfang her ist Juli Zehs neuer Roman Neujahr kaum mehr als eine Novelle,
inhaltlich wie auch mit der gewohnt lakonischen Sprachmeisterschaft bietet es jedoch
erneut einen literarischen Hochgenuss mit Tiefe.
Durchgehend wird nur aus der subjektiven Perspektive von Henning erzählt, Mittdreißiger
und Verlagslektor, der wie seine Frau Teresa nur halbtags arbeitet. Darauf haben sie sich
verständigt, um sich die Betreuung ihrer beiden kleinen Kinder zu teilen. Wobei Henning
der etwas größere Anteil zukommt, da Teresa das höhere Einkommen erzielt.
Beide finden alles richtig so, kommen gut klar damit. Henning fühlt sich allerdings nicht
glücklich, weil er nicht zufrieden damit ist, nicht wirklich zufrieden zu sein, ohne
recht zu wissen, warum. Und seit zwei Jahren sucht ihn immer wieder ES heim, plötzliche
unerklärliche Panikattacken, während er physisch völlig gesund ist. Vielleicht hat er
auch deshalb diesmal vorgeschlagen, Silvester mit einem Kurzurlaub mit der Familie auf
Lanzarote zu verbinden.
Womit das Geschehen einsetzt, eine mäßig erheiternde Silvesterfeier inmitten lauter
fremden Touristen. Am Neujahrsmorgen schwingt sich der noch angekaterte Henning, der sich
häufig auf dem Rennrad entspannt, auf ein Leihfahrrad und tritt in die Pedale, als müsse
er den Steilaufstieg zum Bergdorf Fernés wie ein Profi erstrampeln. Mit einem
ungeeigneten Rad, ohne jeden Proviant und gegen einen strammen Wind.
Bis er dehydriert und total erschöpft bei einer abgelegenen Finca zusammenbricht. Eine
dort allein lebende deutsche Künstlerin älteren Jahrgangs hilft ihm auf und zeigt ihm
schließlich auch das Haus. Das ihm seltsam bekannt vorkommt und ein Schleier von
längst untergegangenen Erinnerung zerreißt: er war schon einmal hier.
Womit der Roman die Zeit wechselt und Henning in ein wahres Kindheitstrauma taumeln
lässt. Das nun in packender Weise aus kindlicher Sicht die schlimmste aller Kinderängste
Wirklichkeit werden lässt: plötzlich sind die Eltern verschwunden und auch niemand sonst
ist da. Genau das geschah vor gut 30 Jahren ihm und seiner gerade zwei Jahre alten
Schwester Luna die noch heute ein überaus chaotisches Wesen hat und mit großer
Anhänglichkeit immer wieder seine Hilfe sucht.
Natürlich können die beiden Kinder nicht einordnen, was sich da zwischen Mutter, Vater
und dem einheimischen Gärtner zugetragen hat. Aber das plötzliche völlige Alleinsein in
dem Haus entwickelt sich zum packenden Horror mit allen so realen Details wie Durst,
Hunger, Lunas Ferkelei mit den vollen Windeln. Und dann dem großen abgedeckten Loch mit
dem Wasserreservoir im Garten, in dem laut Mutters Warnung ein Monster lauert.
Alle Gewissheiten gehen verloren, doch während Luna noch zu klein für eine konkrete
Erinnerung war, hat sich das Geschehen bei Henning offenbar tief drinnen verkapselt. Und
als der erwachsene Henning nach dem Urlaub die Mutter darauf anspricht, die die Kinder
nach der damaligen Scheidung allein aufgezogen und dies beiden immer wieder vorwurfsvoll
bewusst gemacht hat, sagt sie diesen selbstvergessenen Satz: Ich dachte, Vergessen
ist eine Gnade.
So hochaktuell die selbst eingegangene Überforderung des modernen Vaters Henning hier
daherkommt, sie wurde durch das verdrängte Kindheitstrauma zu einem irgendwann kaum mehr
zu bewältigenden Brocken. Fazit: Juli Zeh einmal mehr mit einem großen
gesellschaftlichen Thema unserer Zeit und das in fesselnder Weise zu einem Roman geformt,
den man einfach in einem Rutsch weglesen muss.
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