GUNNAR KAISER: „UNTER DER HAUT“


Mit „Unter der Haut“ hat Gunnar Kaiser einen der wohl ungewöhnlichsten Debütromane der letzten Zeit verfasst. Der führt zunächst in den hitzigen Sommer von 1969 in New York, wo der 20-jährige Jonathan Rosen als Literaturstudent zwar jobbt, vor allem jedoch möglichst viel Zeit mit der Suche nach Mädchen verbringt.
In einem Diner muss er dann mit ansehen, wie ein dandyhafter Herr Ende 40 sein jüngstes Objekt schüchterner Begierde mit Hilfe eines alten Buches „abschleppt“. Völlig auf diese grazile Schönheit fixiert, folgt Jonathan den Beiden bis in die Wohnung des Älteren. Womit für den Ich-Erzähler ein gänzlich neues Leben beginnt, denn dieser Josef Eisenstein heißt auch ihn willkommen.
Und offenbart ein seltsames Begehren: er führt den unbedarften jungen Mann und das schöne Gretchen auf höchst voyeuristisch-erotische Weise zusammen. Während Jonathan so zu seinem ersten Sexerlebnis kommt, beobachtet Eisenstein den Akt und will Gretchen schließlich malen. Das Paar empfindet zum eigenen Erstaunen keinerlei Schau, allerdings kommt es nur noch ein weiteres Mal zu einer solchen Begegnung, danach sieht Jonathan das Mädchen nie wieder.
Der mysteriöse Voyeur aber erweist sich nicht nur als Meister der Verführung, der Jonathan nun zu immer neuen Gespielinnen verhilft. Wie der Junge aus dem jüdischen Mittelstand ist auch Eisenstein ein Büchernarr und macht mit Jonathan begeisternde Streifzüge durch die Welt edler und seltener Bücher. Doch der charismatische Bibliomane scheint ein dunkles Geheimnis zu bergen. Und zur selben Zeit verschwinden immer wieder junge schöne Frauen in New York und dann ist ganz plötzlich auch Eisenstein verschwunden.
Damit springt der bis hierher flirrend sinnliche Erzählton voller faszinierender Beschreibungen in eine ganz andere, eher intellektuelle Ebene und Zeit. Nun eröffnet sich eine Art Eisenstein-Biografie, in der dieser als Jude mit diesem Namen erstaunlich wenig von den in Berlin herrschenden Nazis behelligt wird. Eine andere Art der Spannung kommt auf, insbesondere wenn der bereits hier manisch Bücherversessene verbotene Werke vor der Vernichtung zu retten versucht. Was ihm hinsichtlich seiner jüdischen Geliebten dagegen kläglich misslingt.
Irgendwann im weiteren Verlauf gibt es schließlich etliche Leichen und hier wird es zuweilen recht bizarr, denkt man an enthäutete Frauenleichen und sehr besondere, haptisch edel anzufühlende Bucheinbände. Womit es tiefdunkel mit heftigen Anflügen von Wahnsinn wird – oder Faustischem mit dem dämonischen Verführer Eisenstein und dem unendlich wissbegierigen Jonathan, für den seine erste Geliebte die unvergessliche Traumfrau bleibt: Gretchen!
Der Roman führt schließlich in eine viel spätere Zeit, als Jonathan längst in einem Kibbuz in Israel lebt. Wo ihn dann 1990 die Ex-Polizistin Sally aufsucht. Sie jagt Eisenstein als mutmaßlichen Serienmörder und Jonathan soll ihn identifizieren. Wieder fungiert er als Ich-Erzähler und es entsteht ein weiteres schillerndes Porträt des nicht zu Fassenden.
Womit dieser großartig konstruierte und erzählte Roman dank überzeugender Wendungen und der hinreißenden Fabulierkunst bis zuletzt die Spannung hochhält. Fazit: Unterhaltungsliteratur auf ganz hohem Niveau, allerdings mit Passagen, die für Zartbesaitete nicht leicht zu ertragen sein dürften. Im Übrigen gibt die besonders gestaltete Schutzhülle des Buches einen Hinweis auf gewisse bizarre Vorkommnisse....

# Gunnar Kaiser: Unter der Haut; 517 Seiten; Berlin Verlag, Berlin/München; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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