JOYCE CAROL OATES: DER MANN
OHNE SCHATTEN
Joyce Carol Oates, die wohl größte zeitgenössische Autorin der USA, ist kürzlich 80
Jahre alt geworden. Und hat dazu einen weiteren Roman vorgelgt, wie ihn sich nur die
wenigsten getraut hätten. Der Mann ohne Schatten ist außergewöhnlich und
spektakulär.
Die ehrgeizige Doktorandin der Neurowissenschaften Margot Sharpe begegnet darin 1965 am
Tag vor ihrem 24. Geburtstag dem künftigen Fixpunkt nicht nur ihres beruflichen Lebens:
dem 38-jährigen Wirtschaftsprofi Elihu Hoopes aus einer angesehenen Familie in
Pennsylvania. Im Jahr zuvor infizierte sich der attraktive Junggeselle bei einem
Zelturlaub auf fatale Weise mit dem Enzephalitisvirus, was eine schwere und offenbar
irreparable Hirnschädigung verursachte.
Als Folge leidet er unter partiell retrograder und totaler anterograder Amnesie. Noch
immer weist er einen Intelligenzquotienten um die 150 auf und ist auch im Äußeren und im
Verhalten scheinbar normal. Sein Gedächtnis ist durch die Hirnerkrankung jedoch so
geschädigt, dass er alles und jeden spätestens nach 70 Sekunden wieder vergisst. Wobei
der einst sportliche Aktivist für die Rechte der Schwarzen an fast alles aus der Zeit vor
der Krankheit eine sehr genaue Erinnerung hat.
Die kühle zierliche Margot brennt im Nu für diesen optimalen Patienten hier im
renommierten neuropsychologischen Labor der Darven Park Universität. Eli Hoopes weiß
sich zu benehmen, löst täglich das anspruchsvolle Kreuzworträtsel der New York
Times und spielt eifrig Tennis. Auf die zahllosen Experimente mit ihm lässt er sich
problemlos ein, schließlich vergisst er ja umgehend, dass da schon wieder eines war.
Während Margot die Rätsel seines So-Seins einerseits nicht zu lösen vermag,
überschreitet sie andererseits schließlich eherne ethische Grundsätze. Nicht nur, dass
sie in ihrem Forscherehrgeiz manche Grenze missachtet, sie kann bald auch ihr ganz
persönliches Begehren nicht mehr zügeln und beginnt eine geradezu abstruse Affäre mit
dem Mann, der nach 70 Sekunden nicht mehr weiß, wer sie ist. Immer in der Furcht vor der
Entdeckung beim fragwürdigen Tun und den katastrophalen Folgen für ihre Karriere, hat
sie Sex mit ihm im Wald. Und heiratet ihn sogar, indem sie ihm und sich für
die Schäferstündchen silberne Ringe ansteckt.
Während sie in ihrem Wahn entgegen ihrem Wissen als längst zur wissenschaftlichen
Kapazität aufgestiegenen Amnesie-Expertin sich sogar einbildet, in einem nicht
geschädigten Teil seines Gehirns wisse er, dass sie seine Ehefrau ist, plagen
Eli ganz andere, nicht greifbare Erinnerungsfetzen. Es gab in seiner Jugend eine
elfjährige Cousine, die auf mysteriöse Weise umkam. Immer wieder skizziert er ihre
Leiche mit Kohle und Stiften und leidet unter eine ungewissen Schuld, weil er womöglich
ihren Tod hätte verhindern können.
Ist dieser vielschichtige Roman ohnehin schon von einer ständigen subtilen Spannung
durchzogen, bringen Elis Gedankensplitter des toten Mädchens regelrechte Thrillerelemente
in die komplexe Geschichte. Die sich über drei Jahrzehnte erstreckt und dabei ein
weiteres gravierendes Element einbringt: das unterschiedliche Altern. So sehr Margot auch
versucht, zumindest äußerlich den Schein des Stehenbleibens aufrecht zu erhalten, lebt
Eli im Kopf dauerhaft auf dem letzten Stand als 37-Jähriger.
Um so schmerzlicher für die von Sehnsucht zerfressene Forscherin, wenn er ihr immer noch
sein freundliches Hal-lo entgegenbringt und jedes Mal wie bei jedem anderen
Menschen auch in ihr eine ihm bisher unbekannte Person sieht. So sehr sie als mittlerweile
emeritierte Professorin auch geehrt wird, ist sie doch längst einer hilflosen
Versessenheit verfallen und mindestens so einsam wie ihr Forschungsobjekt, das weder alt
werden noch sich eine Zukunft vorstellen kann.
Joyce Carol Oates meistert diesen künstlerischen Parforce-Ritt auf einer Rasierklinge
bravourös, so kompliziert die Materie auch sein mag. Für die es im Übrigen mit dem Fall
von Henry Gustav Molaison (1926-2008) ein konkretes Vorbild gab. Für die diffizilen
Fachkenntnisse konnte die Autorin zudem auf die Kenntnisse ihres Ehemannes Charles G.
Gross zurückgreifen, einem emeritierten Hirnforscher der Princeton Universität.
Fazit: ein einzigartiger Roman, der auf sehr ungewöhnliche Weise fesselt, dabei
allerdings eine höchst anspruchsvolle Herausforderung darstellt.
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