GEORG THIEL: JUD
Manchester, 1958: Titus String hängt durch, denn beruflich läuft es schlecht für den
freien Fotografen und seine deutschstämmige Freundin Helene orientiert sich gerade
anderweitig. Da kommt der unerwartete Auftrag des großen Manchester Guardian
wie ein Lottogewinn.
Das ist der Einstieg zu Georg Thiels zweitem Roman mit dem Titel Jud. Der
sogleich stutzen lässt, allerdings erst viel später seinen Hintergrund offenbart. Erst
einmal kann Titus aufatmen, denn er soll für ein gutes Salär den Feuilletonisten Rupert
zu einer Reportage auf der Brüsseler Weltausstellung begleiten.
Der Fotograf wie der Autor österreichischer Herkunft lebt auf, obwohl
Rupert als sehr typischer Brite aus dem Landadel nicht nur ziemlich geschwätzig sondern
dabei auch ausgesprochen sarkastisch ist. Das ergibt hinreißende Tiraden des
spitzfindigen Journalisten, die sogar zu heiklen Situationen zum Beispiel im Pavillon der
gänzlich humorfreien UdSSR führen.
Dann jedoch geht es in den österreichischen Pavillon, wo Titus auf die ebenso charmante
wie attraktive Hostess Erika trifft. Und mit ihr einen Opernbeitrag erlebt, der einen
Nervenzusammenbruch bei ihm auslöst. Womit nun auch seine Vergangenheit ins Spiel kommt,
denn die Arie, die ihn da völlig umhaut, ist jene, die seine Mutter einst ständig
gesungen hat. In Tränen aufgelöst erzählt er Erika und Rupert seine Geschichte
wie er es 1939 als Sohn aus gut situierter jüdischer Familie mühsam schaffte, nach
England zu entkommen.
Die Beiden sind sich sofort einig: Titus muss nach Wien, um sich in seiner Heimatstadt der
verdrängten Vergangenheit zu stellen. Und das Schicksal leitet ihn dort auf
verschlungenen Wegen zu einem prägenden Relikt von früher. Als ihn heftige Zahnschmerzen
überfallen, blättert er beim Zahnarzt in einer Illustrierten und ist plötzlich von
einem Foto elektrisiert.
Ein Junge kniet da vor einer Hauswand und pinselt das Wort Jud an die Mauer.
Neben etlichen Gaffern steht übergroß hinter ihm ein schwergewichtiger Mann mit
Hakenkreuzbinde am Arm und schaut kritisch-verächtlich auf ihn herab. Die (historisch
echte!) Fotografie zeigt den 15-jährigen Titus im März 1938 bei dieser öffentlichen
Erniedrigung.
Wie es Titus gelingt, Herrn Oberlehrer Hämmerlein, den Nazi von damals, ausfindig zu
machen, und zu welchen Folgen das führt, ist schlichtweg genial dargestellt. Georg Thiel
bemüht nicht Gaskammern, Vivisektionen oder andere Gräuel des Holocaust, er lässt das
unvergessene Grauen des entkommenen Teenagers auf subtilere Weise erahnen.
Und lässt diesen kleinen und doch so großen Roman in ein großartiges Finale münden, wo
ein bisschen Gerechtigkeit auch ohne die schmutzigen Hände der Rache gelingt. Fazit:
subtil spannend, brillant in Prosa und Dialogen und dazu eine kräftige Portion
trocken-britischen Humors, das macht Jud zu einem Lesevergnügen für
anspruchsvolle Genießer.
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