NAOMI ALDERMAN: „DIE GABE“


Als Naomi Alderman ihren Roman „Die Gabe“ verfasste, hatte sie in Margret Atwood, der großen alten Dame der Dystopien, eine begeisterte Unterstützerin.
Wo die kanadische Autorin in ihrem Weltbestseller von 1985 (und derzeit als Buch und TV-Serie erneut sehr erfolgreich) „Der Report der Magd“ in der Republik Gilead als Nachfolgerin der USA die endgültige totale Herabstufung aller Frauen zu unmündigem Beiwerk oder Gebärmaschinen als Menetekel an die Wand malt, kippt ihre junge englische Kollegin mit ihrem Werk das bestehende Gefüge in eine matriarchalische Zukunft.
Zunächst sind es Einzelfälle wie bei Roxy, 14-jährige Tochter eines englischen Gangsterbosses. Sie wird Zeugin, wie Killer ihre Mutter ermorden, kann dann jedoch mit nichts als ihren bloßen Händen tödliche Rache üben. Die 16-jährige Waise Allie wird in ihrer bigotten amerikanischen Pflegefamilie unterdrückt und sexuell missbraucht. Bis sie den Herrn des Hauses bei der erneuten Vergewaltigung durch Handauflegen mit herabgelassenen Hosen erledigt.
Und die Zeichen mehren sich, dass immer mehr Mädchen und Frauen und neue Kraft in sich spüren, mit der sie Stromschläge wie ein Zitteraal austeilen können. Die Quelle ist ein Organ der Elektrizität, das wie ein neuer Muskelstrang mit dem Schlüsselbein verwachsen ist, weshalb die Trägerinnen es schlicht als den „Strang“ bezeichnen. Niemand weiß, woher das Phänomen kommt, doch es grassiert weltweit.
Rasend schnell geht die Umkehr der Geschlechterrollen um den Globus und plötzlich sind es die Frauen, die stärker sind und die Vorherrschaft auf breiter Ebene an sich reißen. Diese Umkehr der Machtverhältnisse führt zu rabiaten Verwerfungen, wenn der Umsturz im theokratischen Saudi-Arabien Religionspolizei und Königshaus hinwegfegt. Oder in Moldawien, einem Hort des Frauenhandels, die Frauen ihre Peiniger versklaven und eine Frauendiktatur errichten.
Allie schwingt sich zur monströsen „Mother Eve“ und Präsidentin auf und kehrt die Anbetung von Jesus und Maria um, während die charismatische Roxy ein ganzes Heerlager im Drogenrausch enthemmter Frauen um sich schart. Wie Hyänen treiben sie in entfesselter Anarchie Orgien von Vergewaltigungen und Schlächtereien an Männern, die an schlimmste Auswüchse im jugoslawischen Bürgerkrieg erinnern.
Eine gewichtige Rolle kommt dabei dem investigativen Journalisten Tunde Edo zu, dem es unter Lebensgefahr gelingt, einige makabre Rituale und bestialische Gräueltaten aufzuzeichnen. Die Welt gerät zunehmend aus den Fugen, überall sind nun die männlichen Wesen voller Angst und im dramaturgischen Countdown steuert das Geschehen auf einen Showdown zu. Den Naomi Alderman allerdings offen lässt, doch das Grauen ist bis dahin längst vorstellbar geworden.
Die Autorin hat ohnehin keine Utopie vorgehabt, in der alles besser wird, wenn die Macht erst einmal in weiblichen Händen liegt. Im Original heißt der Titel ja auch doppeldeutig „The Power“, also „Die Kraft“ oder „Die Macht“. Und wie korrumpierbar die unweigerlich macht, das ist die pessimistische Perspektive einer völligen Rollenumkehr. Das sind die tiefgründigen Unterströmungen dieses infernalischen Romans.
Fazit: nicht zuletzt wegen der #me-too-Bewegung ein ebenso wichtiges wie hochaktuelles Buch. Dazu passt auch der nur vermeintlich neckische Briefwechsel als Rahmenhandlung. Das Alles ist absolut packend geschrieben, mit einer Vielzahl an bizarren und oft auch explizit grausigen Szenen aber für zartbesaitete Leser auf keinen Fall zu empfehlen.

# Naomi Alderman: Die Gabe (aus dem Englischen von Sabine Thiele); 461 Seiten, Klappenbroschur; Heyne Verlag, München; € 16,99

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 1321 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de