GEORGE SAUNDERS: LINCOLN IM
BARDO
Im Februar 1862 starb der erst elfjährige William Wallace Lincoln an Typhus und sein
Vater, der amtierende US-Präsident Abraham Lincoln, war schier untröstlich. Diese tiefe
persönliche Trauer fiel jedoch zusammen mit der großen nationalen Krise seines Landes,
das auf den Schlachtfeldern des tobenden Bürgerkrieges einen täglichen entsetzlichen
Aderlass erlebte.
Aus dieser zutiefst schmerzlichen Krise eines Vaters und Staatsmannes hat George Saunders,
berühmt für seine bissigen Kurzgeschichten, seinen ersten Roman entwickelt. Und
Lincoln im Bardo wurde ein derartig brillantes und dabei außergewöhnliches
Werk, dass es mit dem Man Booker Prize 2017 einen der höchsten Literaturpreise weltweit
gewann.
Schon der Ansatz geht ins Besondere, denn dieses Bardo, das im Mittelpunkt steht, ist dem
Buddhismus entlehnt. Dort bezeichnet es die Zwischenwelt, in die die Gestorbenen
eintreten, bevor sie in die jeweils nächste Daseinsphase oder im günstigsten Fall
ins Nirvana eintreten. Im Bardo weilen vor allem jene Toten, die noch nicht vom
Leben lassen und den Schritt daraus nicht wahrhaben wollen.
Kinder allerdings durchschreiten dieses Mittelreich in der Regel ungehindert. Wenn sie
nicht aufgehalten werden wie Willie, der nicht loslassen kann, weil sein Vater nicht von
ihm lassen will. Tatsächlich ist es historisch verbürgt, dass sich der untröstliche
Abraham Lincoln mehrfach nächtens in die gemietete Gruft auf dem Oak Hill Cemetary in
Georgetown schlich, das tote Kind aus dem Sarg nahm und es an sich drückte.
Die vielen toten Seelen dieses Friedhofs jedoch fürchten für das Seelenheil des Kindes,
wenn es an der Weiterreise gehindert wird und sein Leichnam unrettbar zu zerfallen
beginnt. Und sie werden zu einem skurrilen vielstimmigen Chor, der auf alle erdenkliche
und zugleich hilflose Weise versucht, den trauernden Vater zum Loslassen zu überreden.
Da sind vor allem drei intensive Stimmen immer wieder im Vordergrund. Robin Bevins schwebt
im Zwischenreich, nachdem er sich umbrachte, weil ihn seine homosexuelle Verliebtheit ins
Unglück stürzte. Hans Vollman dagegen ist eine tragische Figur, denn der verlebte
ältere Herr wurde durch einen Balken erschlagen, als seine junge junge schöne Ehefrau
gerade erstmals bereit war, sich ihm körperlich hinzugeben. Reverend Thomas wiederum, mit
80 Jahren altersgemäß verblichen, fürchtet sich schlicht vor dem, was da noch kommen
könnte.
Wobei sie alle sich weigern, ihr jetziges So-Sein zu akzeptieren, weshalb das Wort
tot auch streng vermieden wird und ihre Särge keine solchen sind sondern
Krankenkisten. Und es ist ein verwirrender Chor von weit über 100 Stimmen aus
allen gesellschaftlichen Kreisen, der hier eine wahre Kakophonie von persönlichen,
gesellschaftlichen und politischen Ansichten von sich gibt.
Manche Aussagen sind historische Zitate, manche fiktiv, alle aber sind exzellent
miteinander verflochten. Was zur Herausforderung für den Leser wird, aber auch zu einem
ebenso irisierenden wie faszinierenden Gesamtbild führt. Trauer aber ist trotz der
Ausgangssituation nicht das beherrschende Gefühl, denn gerade im Bardo sorgt der bunte
Reigen für eine tragikomische Stimmung.
Fazit: literarisch ein Meisterwerk, das zudem von Frank Heibert hervorragend ins Deutsche
übertragen wurde. Mit seinem hohen Schwierigkeitsgrad dürfte dieser Roman aber vor allem
Freunde der besonderen Form ansprechen.
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