MICHEL FABER: „DAS BUCH DER SELTSAMEN NEUEN DINGE“


Michel Faber ist ein seltener und stets ungewöhnlicher Autor. Einst hatte der in England lebende gebürtige Niederländer einen Welterfolg mit dem Kultroman „Das karmesinrote Blütenblatt“ aus viktorianischen Zeiten. Später gab er mit dem ebenso fremdartigen wie verstörenden ScienceFiction-Roman „Die Weltenwandlerin“ die Vorlage für den außergewöhnlichen Scarlett-Johansson-Film „Under the Skin“.
Sein jüngster Roman aber stellt all das in den Schatten und lässt schon beim Klappentext stutzen. Und skeptisch werden, denn „Das Buch der seltsamen neuen Dinge“, so der Titel, steht als Synonym für – die Bibel. Und tatsächlich steht im Mittelpunkt der Geistliche Peter Leigh, der als Missionar auf dem Planeten Oasis in einer anderen Galaxie den Außerirdischen die Heilige Schrift nahebringen soll.
Also ein ScienceFiction-Roman mit religiösem Erbauungspotential? Oder eine Satire, um womöglich beides ad absurdum zu führen? Weder noch, denn Michel Faber ist nicht nur ein ebenso scheuer wie ernsthafter Schriftsteller, er ist auch ein Meister subtiler Menschlichkeit in absoluter Fremdheit, Einsamkeit und tiefster Innigkeit des Empfindens.
Hier bricht ein äußerst aufrichtiger Mann des Glaubens, der einst ein schier hoffnungsloser Dropout war und sowohl durch den Glauben wie auch seine Beatrice ins Leben zurückgefunden hatte, auf zu einer Missionsreise, die ihm ein tiefes Bedürfnis ist. Doch auch Bea bejaht diese Reise, die mit der Trennung auf eine unvorstellbare Entfernung verbunden ist. Deren Ende zudem nur vage angedeutet wurde.
Der gesichtslos bleibende globale USIC-Konzern entsendet Peter auf den von ihm ausgebeuteten Planeten, von wo er nur per Mails mit Bea kommunizieren kann, die endlos lange durch das Weltall brauchen. Voller Liebe aber auch Sehnsucht sind beider Botschaften und Peter lässt Bea zunächst sehr intensiv an seinem Prozess der schwierigen Eingewöhnung teilnehmen. Und es dauert eine Zeit bis zur ersten Begegnung mit den Oasiern, die er bei aller Fremdheit nicht Aliens nennen mag: „Weil wir hier die Aliens sind.“
Um so mehr überraschen diese Wesen, die bis auf ihre abstrus hässlich anzusehenden „Gesichter“ ziemlich menschenähnlich sind, mit ihrer sanftmütigen Gläubigkeit. Die ist derartig über alle Maße gottesfürchtig, dass Peter die einzelnen Oasier statt mit ihren unaussprechlichen Namen als „Jesus-Freund Eins“ bis soundso durchnummeriert. Wobei er erst viel später den Unterschied der Geschlechter herausfindet, als sich der schwer verletzte Jesus-Freund Fünf als weiblich erweist.
Missionieren aber muss er diese sehr zurückgezogen lebenden einfachen Wesen keineswegs, stattdessen begeistern sie sich in geradezu kindlicher Manier für alles, was ihnen Gottesmann Peter aus dem „Buch der seltsamen neuen Dinge“ vorträgt. Er bemüht sich um sprachliche Anpassung, denn ihre Andersartigkeit erschwert die Aussprache stark – die denn auch auf faszinierende Weise mit fremdartigen Textsymbolen (ein wenig an Thai-Schriftzeichen erinnernd) kenntlich gemacht werden.
Doch wie Peter sich in die fremden Wesen und ihre komplexe und nur bruchstückhaft zu verstehende Fremdheit einfühlt, um so dürrer wird die Kommunikation mit der unendlich fernen Bea. Sie erlebt auf der Erde apokalyptische Veränderungen, Klimakatastrophen, deprimierende gesellschaftliche Ereignisse, die allmählich auch ihren Glauben untergraben, der ursprünglich so fest war wie der seine.
Und während Peter inmitten der Oasier zu leben, sie zu verstehen und sogar mit ihnen eine Kirche zu bauen versucht, entgleitet ihm die Nähe zu seiner geliebten Frau. Waren die Verbindungen zu den reservierten Technikern und Wissenschaftlern in der USIC-Basis schon wenig erwärmend und selbst die wachsende Vertraulichkeit mit Grainger, der spröden Apothekerin, nicht von Herzenswärme geprägt, steigert sich die tiefe Trauer Peters ins zuweilen kaum Erträgliche.
Wozu man wissen muss, dass Michel Fabers Ehefrau im Laufe des langen Entstehungsprozesses dieses machtvollen Romanes an Krebs erkrankte und nur mit Mühe noch den Abschluss des Manuskriptes erlebte. So aufwühlend die Ereignisse auch sind, die Peter mit den Oasiern durchleidet, während er zunehmend Mühe hat, sich Beas Gesicht noch konkret vorzustellen, kämpft diese in der realen Erdenwelt mit ungleich Schlimmerem. Und teilt ihm deprimiert mit, dass sie von ihrem Abschiedsabend schwanger ist, er aber gleichwohl besser in der Sicherheit der abgeschiedenen Galaxie bleiben solle.
Diese ungeheuer intensive, auf tiefgründige Weise fesselnde Geschichte braucht weder schrille Aliens noch einen spektakulär exotischen Planeten, ja nicht einmal irgendeinen richtigen Bösewicht. Man erfährt nicht, wozu die irdische Kolonie wirklich dient, wie viele Oasier es überhaupt gibt und wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, und trotzdem ist dieses Buch ein Wunderwerk der Erzählkunst. Allerdings eines, das bei aller Schönheit und tief berührenden Menschlichkeit von einer dunklen Trauer durchzogen, die mit ihrer unglaublichen Präzision lange nachhallt. Und man ahnt nur zu gut, warum Michel Faber diesen Liebesroman der besonderen Art als sein definitiv letztes Werk bezeichnet.

# Michel Faber: Das Buch der seltsamen neuen Dinge (aus dem Englischen von Malte Krutzsch); 683 Seiten; Kein & Aber Verlag, Zürich; € 25

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)  

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