WILLIAM TAUBMAN: „GORBATSCHOW“


Michail Gorbatschow ist eine der größten historischen Persönlichkeiten der Neuzeit und ganz sicher eine der wirkmächtigsten des 20. Jahrhunderts. Wenn man dies in Russland und manchen der ehemaligen Sowjetrepubliken sehr anders sieht, ist das allerdings ebenso verständlich, schließlich steht der Friedensnobelpreisträger von 1990 als verantwortlicher Politiker für den Zerfall der Weltmacht UdSSR.
Zum Staatsmann Gorbatschow gibt es etliche biografische Werke, doch keines davon kann sich mit dem Opus Magnum von Pulitzer-Preisträger William Taubman messen. Unter dem Titel „Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit“ legt er eine Biografie vor, die ebenso tief fundierte Zeitgeschichte wie bestens recherchierte psychologische Studie ist.
Über zehn Jahre Recherche flossen hinein und neben reicher Faktengrundlage sind vor allem dutzende Interviews mit Zeitzeugen und Mitarbeitern von West und Ost verwertet worden. Besonderes Gewicht für den Professor für Politikwissenschaft am Amherst College, Massachusetts, hatten jedoch mehrere eingehende Interviews mit Michail Gorbatschow persönlich. Die mit zu einer abschließenden Feststellung seitens des Experten für Sowjetgeschichte führten: „Gorbatschow ist schwer zu verstehen.“
Bevor Taubman aber auf die teils noch heute rätselhafte Geschichte jener sechs Jahre Gorbatschows als Generalsekretär der KPdSU und Präsident der UdSSR eingeht, schildert er detailliert Herkunft und Werdegang des Bauernsohnes aus dem Nordkaukasus. Der in jungen Jahren ein Musterschüler des Kommunismus war und nach entbehrungsreicher Jugend außer hoher Intelligenz auch ungeheuer viel Tatkraft zutage legte.
Der Biograf geht jedoch ähnlich ausführlich auf Ehefrau Raissa ein, die Gorbatschow während des Jura-Studiums in Moskau kennenlernte. Ihre Rolle als Vertraute und Ratgeberin kann einfach nicht hoch genug eingeschätzt werden und diese erste echte First Lady der Sowjetunion war offenbar noch willensstärker als der wissens- und diskussionsfreudige Gorbatschow selbst.
Geradezu verblüffend liest sich dagegen jene Passage über den Übergang der Sowjetmacht an den soeben 54 Jahre alt gewordenen Politiker. Quasi völlig reibungslos gelang diese Inthronisierung als Generalsekretär am 10. März 1985, als der kurzzeitige Vorgänger Konstantin Tschernenko verstorben war. Allerdings galt der vergleichsweise sehr junge Mann im höchsten Machtzirkel bereits da als brillanter Taktiker.
Der nun mit großen Ehrgeiz die aus seiner – vollauf berechtigten – Sicht überfälligen Reformen anging, um die Weltmacht vor dem politischen und wirtschaftlichen Untergang zu retten. Seine Stärken machten alles möglich, betont Taubman, doch seine Schwächen unterminierten das gesamte Projekt bis hin zum Zerfall des Sowjetreichs Ende 1991. Was in den sechs Jahren in Bewegung gesetzt wurde und die Welt völlig veränderte, das liest sich einerseits wie ein spannender Roman, anderseits ist es noch nie so detailliert und auch psychologisch analysiert worden wie hier.
Während Gorbatschow Perestroika und Glasnost, der Umbau des Staates im Inneren, ein brennendes Anliegen war, zeigte er außenpolitisch eine geradezu isolationistische Haltung, die so gänzlich im Gegensatz zum jahrzehntelangen sowjetischen Internationalismus stand. Als es in den Bruderstaaten brodelte und deren Machthabern die Macht zerbröselte, zeigte sich der Sowjetführer beinahe desinteressiert.
Da spielte auch die ihm eigene intellektuelle Arroganz eine wichtige Rolle, mit der er sich vor allem innenpolitisch viele Feinde machte – ohne genügend Gespür, es zu merken und zu reagieren. Das Entgleiten der Macht über die anderen Ostblockstaaten aber beruhte ganz maßgeblich auch auf einer objektiv gesehen sehr sympathischen Charaktereigenschaft: Gorbatschows Abscheu gegenüber der Anwendung jeglicher Gewalt.
Die Kapitel über die Ereignisse, als der Eiserne Vorhang fiel, lesen sich überaus spannend, zumal sie mit manchen wenig bekannten Details und Analysen durchsetzt sind. Da zählt es zu den größten ungelösten Rätseln, wieso sich der Sowjetführer neben der Wiedervereinigung Deutschlands auch dessen einheitliche NATO-Mitgliedschaft abschwatzen ließ.
Ähnlich erstaunlich ist allerdings gleichfalls die Nonchalance, mit der Gorbatschow zwar US-Präsident Bush, Margaret Thatcher und Francois Mitterand Botschaften zusandte, in denen er den Mauerfall als richtige Entscheidung der DDR-Führung bezeichnete. Im Kreml aber gab es nicht einmal nennenswerte Diskussionen über das geostrategisch so folgenreiche Ereignis.
Zu Gorbatschows Verkennung von bedrohlichen Situationen führten Eigenschaften und Verhaltensweisen, die diesen Mann in an sich angenehmer Weise von den sonstigen Apparatschiks unterschieden. Und spätestens 1990/91 kommt seine dauerhaft schwierige Beziehung zum poltrigen Boris Jelzin auf tragische Weise zur Wirkung. Ohnehin zeichnet die Qualitäten dieses umfassenden Werkes aus, dass Taubman neben den vielen positiven Charakterzügen Gorbatschows („ein bemerkenswert anständiger Mann für einen Sowjetführer“) auch dessen Fehler und negativen Eigenheiten nicht ausblendet.
Der Historiker schildert den im Westen so hochverehrten und daheim weitgehend verhassten Staatsmann mit Sympathie aber eben auch mit der gebotenen kritischen Objektivität. Fazit: ein Meisterwerk als Biografie und ausgestattet mit allen Qualitäten für einen Klassiker der Geschichtsliteratur.

# William Taubman: Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit. Eine Biografie (aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Norbert Juraschitz); 935 Seiten, div. SW-Abb.; C. H. Beck Verlag, München; € 34

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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