NIKOLA SCOTT: ZEIT DER
SCHWALBEN
Am ersten Todestag ihrer Mutter, der Literaturprofessorin Elisabeth Harington, kehrt deren
älteste Tochter Adele mit beklommenen Gefühlen ins Elternhaus zurück. Noch immer ist
der Vater in Trauer erstarrt, ihre Schwester Venetia spielt sich jetzt als Hochschwangere
noch narzisstischer als sonst auf und Bruder Jasper glänzt berufsbedingt durch
Abwesenheit.
Das ist die Situation zu Beginn von Zeit der Schwalben, dem Debütroman von
Nikola Scott. Der Titel ist irreführend, denn erzählt wird keine leichte
Sommergeschichte, auch wenn ein unbeschwerter Sommer mit erster Verliebtheit eine kurze
aber wichtige Rolle spielt. Tat sich Adele, die allgemein Addie gerufene
Ich-Erzählerin, schon in der trauernden Familienrunde schwer, kommt es nun nämlich zu
einem Schockerlebnis.
Eine junge Frau klingelt an der Tür und behauptet, Elisabeth Harington sei ihre Mutter.
Und: Wo ist die andere? Womit sie ihre Zwillingsschwester meint, geboren am
14. Februar 1960 wie Addie. Für die stürzt eine Welt ein, denn wie passt diese
Phoebe Roberts in das von klein auf bekannte Familiengefüge? Um so rätselhafter wird im
Zusammenhang damit der seltsame Anruf, den sie Stunden vorher in Mutters seit deren
Unfalltod unberührt gelassenem Arbeitszimmer erhielt.
Da hatte ein Mann, der sich später als Detektiv insbesondere für vermisste Personen
erweist, neue Erkenntnisse angedeutet und ungeduldig auf den Rückruf der inzwischen
Verstorbenen gewartet. Zunächst lehnt Addie die angebliche Schwester vehement ab, zumal
sie ohnehin von jeher unter Minderwertigkeitsgefühlen litt. Ihre Mutter als hochmögende
Akademikerin hatte nie recht verwunden, dass ihre Älteste nicht mehr als eine
Konditorenlehre absolvierte.
Im Gegensatz dazu war Venetia Architektin geworden und der jüngere Bruder Jasper ein
bekannter Chirurg. Mochte Vater George seine Frau auch sehr geliebt haben, so stellte
Addie zum Umgang der Familie miteinander doch sarkastisch fest: Wir waren keine
Familie, die sich küsste oder umarmte oder sich überhaupt viel berührte.
Gleichwohl eröffnet sich dem Leser dann auch die Vergangenheit der brillanten Mutter in
Tagebucheintragungen aus deren Teenagertagen in den späten 50ern.
Ihre weltoffene Mutter lag im Endstadium mit Krebs daheim, doch der ebenso altbackene wie
engstirnige Vater schickte die 17-Jährige gleichwohl gegen ihren Willen in den
Sommerferien zu einer wohlsituierten Familie ans Meer. Die Aufzeichnungen beginnen 1958
und bald liest man von verliebten Gefühlen. Addie und Phoebe aber, die eine schwierige
Annäherung finden und schließlich intensiv zu ermitteln beginnen, finden teils
schmerzliche, teils kaum fassbare Geheimnisse heraus.
Wie konnte es zu ihrer Trennung nach der Geburt kommen und wer war ihr wahrer Vater? Was
von den selbstverständlich gewesenen Tatsachen stimmte überhaupt noch? Diese Spurensuche
offenbart nach und nach gesellschaftliche Verhältnisse, die aus heutiger Sicht kaum noch
vorsellbar sind. Als die junge Elisabeth vom Sohn ihrer Gastfamilie schwanger wird, glaubt
sie noch an das große Glück. Doch er ist bereits verheiratet und will sogar die damals
verbotene Abtreibung.
Was man hier über den Absturz als gefallenes Mädchen und erzwungene
Adoptionsfreigaben liest, lässt einen schier den Atem stocken zumal es
tatsächlich so war. Nikola Scott hat daraus eine ebenso anspruchsvolle wie bewegende
Geschichte geschaffen, die gerade auch wegen der psychologischen Glaubwürdigkeit
überzeugt.
Fazit: dies ist kein sogenannter Frauenroman, vielmehr bietet er auch dank der
hervorragenden Dramaturgie einen spannenden, anspruchsvollen Lesegenuss.
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