SEBASTIAN FAULKS: „DER GROßE WAHN“


Als Psychiater und Buchautor ist Dr. Robert Hendricks recht erfolgreich. In seinem Privatleben tut sich der Mittsechziger jedoch seit jeher ziemlich schwer. Nähe fällt ihm schwer und als er sich jetzt während einer Tagung in New York ein Callgirl ins Gästezimmer bei einem Kollegen bestellt, hat er danach sogar ein seltsam schlechtes Gewissen.
Mit diesem etwas skurrilen Abstecher beginnt „Der große Wahn“, der mittlerweile 13. Roman des britischen Erfolgsautors Sebastian Faulks. Wieder daheim in London setzt sich Henricks' Beziehungsunfähigkeit einmal mehr fort, als die mehrjährige Affäre mit der deutlich jüngeren Annalisa zwar durch ein Missverständnis, in Wirklichkeit jedoch an mangelnder Hingabe scheitert.
Um so intensiver empfindet er sich als „Stammgast der Einsamkeit“, was er allerdings eher fatalistisch als selbstmitleidig feststellt. Derartig ungebunden und mit mäßig ausgeprägtem Gefühlsleben, lässt er sich zögernd auf die Einladung des ihm unbekannten Dr. Alexander Pereira ein, der auf einer kleinen Insel vor der französischen Küste lebt.
Der 93-jährige Spezialist für geriatrische Leiden interessiert sich für Hendricks wissenschaftliche Arbeit. Für den aber ist die eigentliche Motivation, den betagten Kollegen zu besuchen, die eine wichtige Bemerkung im Einladungsbrief: er habe seinen Vater gekannt, bevor dieser in den letzten Wochen des Ersten Weltkriegs an der Front umkam. Hendricks war erst zwei Jahre alt, als das geschah, und das vaterlose Aufwachsen mit einer seither freudlosen Witwe als Mutter hatte ihn geprägt.
Und tatsächlich gelingt es Pereira, seinen Gast zum Reden zu bringen, sich erstmals seiner verdrängten, tief verschütteten Vergangenheit zu stellen. Wie der Erste Weltkrieg einst die gesicherte Existenz des Vaters als selbständiger Schneider beendet hatte, riss der Zweite Weltkrieg den Sohn aus seinem mühsam erarbeiteten Medizinstudium. Um als Soldat allerdings eine Karriere bis zum Offizier zu machen, die ihn an etliche Fronten brachte.
Es sind spröde und gradlinige Schilderungen, in denen sich Hendricks immer mehr für Erlebtes und Erlittenes öffnet. Wie immer wieder Untergebene nebem ihm umkamen und der Wahnsinn des Krieges auch ihn schließlich im Frühjahr 1944 im Brückenkopf von Anzio derartig durchdrehen ließ, dass ihn erst ein ihm kaum bewusst gewordener Gewaltakt eines Kameraden ihn auf längere Zeit aus dem Kampfgeschehen schleuderte.
Damals in Beziehungsangelegenheiten noch recht unbedarft, lernte er dann jedoch im Lazarett die bildschöne Luisa kennen, seine große Liebe. Die jedoch in all den Wirren des Krieges hoffnungslos auseinanderlief, ohne äußere Spuren zu hinterlassen. Innere dagegen um so mehr, die er später verbittert ganz tief vergrub und erst jetzt in den Gesprächen mit dem uralten Kriegsveteranen herauslässt.
Doch der greise Freund bewegt Hendricks nicht nur dazu, einer möglichen Spur zu der nie vergessenen Luisa zu folgen. Was zu einer ebenso schlichten wie ergreifenden Szene des Wiedersehens nach 37 Jahren führt. Schließlich offenbart Pereira auch sein Wissen um das bittere Schicksal von Hendricks senior. Er hat dessen traumatischen Erlebnisse im jahrelangen Irrsinn des Stellungskrieges teils selbst miterlebt.
Doch wenn der Sohn nun auch den Verlust von Glauben und Gewissheit durch die Kriege beklagt, stellt der Veteran unmissverständlich klar: „In einem Schützengraben gibt es keine Atheisten.“ Und er übergibt ihm zwei Schätze von ungeheurer Bedeutung: Briefe seines Vaters, die Pereira als Vorgesetzter aus Zensurgründen eigentlich hätte vernichten müssen.
In dem letzten Brief an seine geliebte Frau schildert dieser ganz normale Familienvater den ganzen Wahnsinn des Krieges aus der Sicht eines gewöhnlichen Frontsoldaten. Und noch bewegender ist schließlich der angeheftete Abschiedsbrief an den kleinen, ihm fast unbekannten Robert. Dies um so mehr, als Sebastian Faulks' Prosa hier gerade durch ihre nüchterne Darstellung überzeugt, die Robert Hendricks' tiefliegende Traurigkeit spürbar macht, ohne je sentimental zu werden.
So distanziert diese Hauptfigur auch daherkommt, so nahe kommt sie doch dem Leser. Fazit: ein zunächst spröder, sich jedoch exzellent entwickelnder Antikriegsroman, der dank seiner Lakonie und seines Realismus ungemein fesselt und lange nachhallt. Die hervorragende Übersetzung trägt im Übrigen das Ihrige zu den hohen Qualitäten dieses Buches bei.

# Sebastian Faulks: Der große Wahn (aus dem Englischen von Jochen Schimmang); 431 Seiten; marebuchverlag, Hamburg; € 24

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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