JULI ZEH: LEERE HERZEN
Vor die Entscheidung gestellt, sich zwischen dem Wahlrecht und einer modernen
Waschmaschine zu entscheiden, wählten nur 18 Prozent das Wahlrecht. Diese Umfrage ist
zwar ein fiktives Schmankerl in Juli Zehs neuem Roman Leere Herzen, zugleich
aber erscheint die Realität, die die Erfolgsautorin in diesem Politthriller für das Jahr
2025 zeichnet, beängstigend gut vorstellbar.
Die Besorgte Bürger-Bewegung BBB herrscht seit mehreren Jahren mit absoluter
Mehrheit, die sie allerdings in demokratischen Wahlen errang. Angela Merkel wurde
schmählich in die Wüste geschickt und die aktuelle Bundeskanzlerin heißt Regula Dreyer,
Typ Frauke Petry. Mit parlamentarischen Effizienzpaketen und sanfter Diktatur
wurde der Staat umgebaut. Wer es gemütlich mag, lebt vom bedingungslosen Grundeinkommen,
wer mehr will, muss dagegen vom Grundschulalter an heftig ranklotzen.
Es gilt Germany first, rundherum ist die EU zerfallen und für die UNO sieht
es ebenfalls schlecht aus. Gleichwohl: mögen Grundrechte und demokratische Strukturen
auch eingeschränkt sein, es geht den Menschen ja gut. Auch wenn die neuen Verhältnisse
nicht allen gefallen, denkt doch die große Mehrheit wie Britta Söldner, Ende 30, eine
Tochter, dass Politik wie das Wetter ist: Sie findet statt, ganz egal, ob man
zusieht oder nicht, und nur Idioten beschweren sich darüber.
Britta täte das ganz sicher nicht, denn gemeinsam mit dem schwulen Computer-Nerd Babak
Hamwi mit den irakischen Wurzeln hat die Nihilistin mit dem Putzfimmel ein
Geschäftsmodell erfunden, das ebenso zynisch wie einträglich ist. Nach außen hin
betreiben die Beiden im braven Braunschweig eine Praxis für Selbstmordprävention. In
einer zwölfstufigen Schocktherapie bis hin zum Waterboarding werden die Patienten dabei
geheilt.
Wer jedoch untherapierbar bleibt, besteht genau damit einen speziellen Test: er eignet
sich zum Selbstmordattentäter für höhere Zwecke. Nummer 1 war der pädophile Dirk, den
Britta und Babak an eine radikale Umweltschutzorganisation für einen ultimativen Einsatz
vermittelten. Bedarf haben zum Beispiel auch Separatisten oder die Nachfolgeorganisation
des IS. Und der einzige Terror-Dienstleister der Republik floriert in stiller
Übereinkunft mit den Geheimdiensten, denn ein dosierter Terrorismus wird zum Erhalt eines
sinnvollen Angstpotential gutgeheißen.
Um so verwirrter reagiert Britta, als am Leipziger Frachtflughafen ein Selbstmordanschlag
passiert, aber derartig dilettantisch, dass es keiner von ihren Schützlingen gewesen sein
kann. Und es mehren sich die Anzeichen, dass da ein Konkurrenzunternehmen am Werke ist.
Als sich ausgerechnet jetzt mit der jungen attraktiven Julietta auch noch erstmals eine
Frau für die speziellen Weihen vorstellt, passt Britta das gar nicht ins Programm.
Doch die von jedem Glauben oder Idealismus abgefallene Britta hat sich nicht umsonst fürs
Funktionieren entschieden und nun bauen sich immer rasantere Entwicklungen
auf. In die auch noch die Entführung des undurchsichtigen millionenschweren Gurus Guido
Hatz stößt und sich alles bis hin zum Putschversuch auftürmt. Mehr aber sei von dem
absurden und doch so realistisch erscheinenden Nahzukunftsgeschehen nicht verraten.
Im Gegensatz zum episch erzählten Vorgängerroman Unterleuten bleiben die
Charaktere hier durchweg eher flach und konturenschwach. Und sind gerade damit um so
authentischer in dieser desinteressierten egomanen Gesellschaft, die Juli Zeh so nüchtern
und ganz ohne moralischen Zeigefinger als verstörende Vision an die Wand malt.
Fazit: ein exzellenter Spannungsroman und zugleich eine Art Gegenstück zu Michel
Houellebeqs Roman Unterwerfung, in dem ein sanfter Islam in Frankreich die
Regentschaft übernimmt.
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