HENNING BOETIUS: „DER INSULANER“


„Er war zu einer Expedition aufgebrochen, deren Ziel er selbst war.“ Und damit ist nicht weniger als eine große Autobiografie gemeint, die in der Reinform zu schreiben, sicher zu langweilig gewesen wäre für einen Schriftsteller wie Henning Boetius.
Deshalb hat der mittlerweile 78-Jährige die Chronik seines langen Lebens voller Höhen und Tiefen als autobiografischen Roman verfasst. Sein Kunstgriff dabei mag zwar nicht ganz neu sein, doch wohl kaum ein Autor vor ihm hat ihn mit solcher Meisterschaft bewältigt wie er. Als Patient „B.“ muss er sich einer Operation wegen eines Gehirntumors unterziehen und es sind die Narkoseträume, in denen er zum Berichterstatter wird.
Die Können in der Tat lang und intensiv sein und in diesem Fall handelt es sich um eine sehr langwierige Operation. Vor der der Patient im Übrigen nur bedingt Angst hat. Um sein Leben fürchtet er keineswegs, dagegen sorgt er sich, dass er sich hernach womöglich an nichts mehr erinnern kann. Zumal er soeben begonnen hat, die Geschichte seines Lebens aufzuschreiben.
Im realen Leben hat der Autor zahlreicher Werke von Romanen über Kinderbücher bis hin zu Sachbüchern sechs Jahre an diesem Buch geschrieben und er durchlitt in dieser Zeit eine Krebserkrankung. Wenn der Titel nun „Der Insulaner“ lautet, so verweist er auf eine Prägung in frühester Jugend, die sein weiteres Leben maßgeblich beeinflusste. Er wuchs auf Föhr auf, galt als zugezogenes Einzelkind jedoch als Außenseiter.
Unterm kindlichen Mobbing entwickelte er sich zum Sonderling. Die in sich gekehrte melancholische Mutter, die ihre künstlerischen Neigungen nie auslebte, war sicher ebenso ein weiterer auslösender Faktor wie der bewunderte aber stets unnahbare Vater, der noch vor der Geburt des Sohnes als Offizier die Katastrophe des Luftschiffs Hindenburg von 1937 überlebt hatte.
Der Junge entwickelte im Sinne des Wortes, was man als Inselbegabung bezeichnet. In seinem Fall war es der extreme Sinn für die Physik. Doch auch als die Familie später in die Kreisstadt Rendsburg zog, blieb B. ein Außenseiter, der nach der Schule beginnt, sich im Leben zurechtzufinden. Wie der reale Henning Boetius studiert er nicht nur Germanistik und Philosophie – nicht Physik! - sondern taumelt mit Höhen und Tiefen durch verschiedene Lebensentwürfe, die teils krachend scheitern bis hin zu einer vorübergehenden Obdachlosigkeit.
Eingangs taucht B. jedoch auch in die verwinkelte Familiengeschichte ein. Die erzählt er seinem Analytiker – der im Narkosetraum als stiller Zuhörer zugegen ist – mit ebenso sprachgewaltiger Eleganz wie später die erste fast-platonische Liebe zu Olga und die bewegten Aufbruchzeiten in den 60er Jahren. Es sind Geschichten über einen Teil des 20. Jahrhunderts bis in unsere Gegenwart, die B. mit starken stimmungsvollen Bildern schildert. Doch bei aller Intellektualität des Autors geschieht das stets ebenso intensiv wie fesselnd.
Ein riesiges Füllhorn an Leben und Erlebtem schüttet Henning Boetius hier aus und man kann sich gar nicht sattlesen an diesem bravourösen Stilisten, der dabei im besten Sinne altmodisch schreibt. Fazit: ein anspruchsvolles Werk, das den Leser auf faszinierende Weise mitnimmt auf eine Reise in ein langes und ganz real nachempfundenes Leben.

# Henning Boetius: Der Insulaner; 958 Seiten; btb Verlag, München; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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