AYELET GUNDAR-GOSHEN: „LÜGNERIN“


Der dritte Roman der israelischen Erfolgsautorin Ayelet Gundar-Goshen führt ins quirlige Tel Aviv am immer noch schwitzigen Ende des Sommers. In einer Eisdiele arbeitet die 17-jährige Schülerin Nuphar und keiner ihrer Kunden würdigt sie eines zweiten Blickes.
Kein Wunder, denn diese „in ihrer Unscheinbarkeit ertrinkende Eisverkäuferin“ hat in ihrer gesamten Erscheinung einfach gar nichts zu bieten, das positiv oder wenigstens negativ herausstechen würde. Dabei bedeutet Nuphar Seerose, doch dem wenig älteren Lavie geht es nicht besser. Der unscheinbare Schlacks wohnt über der Eisdiele und wie Nuphar leidet er unter einem viel zu anspruchsvollen Namen, heißt Lavie doch nicht weniger als Löwe.
Bis der Tag kommt, an dem ein an sich nicht wirklich dramatischer Zwischenfall alles ändert. Und davon erzählt „Lügnerin“, dieser anfangs so gemächlich und scheinbar absehbar vor sich hintreibende Roman. Es ist ein gewöhnlicher Tag, als Avischai Milner die Eisdiele betritt, vor Jahren ein Schlagerstar, inzwischen jedoch abgetakelt und nur noch frustriert.
Gerade hat man per Handy erneut einen großartigen Show-Vorschlag von ihm abgelehnt, da muss er auch noch erleben – nachdem er schon auf die Rückkehr der Verkäuferin von der Toilette warten musste – dass dieser auch noch unbedacht eine grammatikalische Korrektur des von ihm Gesagten herausrutscht. Er rastet aus und lässt einen ganzen Schwall von Beleidungen und Demütigen über sie niedergehen und trifft ihre massiven Minderwertskomplexe ins Mark.
Weinend läuft sie hinaus in den Hinterhof und nun macht Milner zwei Riesenfehler. Als erstes läuft er ihr nach, weil sie veremintlich sein Wechselgeld mitgenommen hat. Und er packt sie hart am Arm, worauf sie angstvoll mit höchster Lautstärke um Hilfe schreit. Umgehend eilt ein ganzer Pulk von Passanten von der Straße herbei und umringt die Szenerie.
Milner aber greift noch einmal daneben, indem er statt einer Beschwichtigung noch rüdere Beleidigungen gegen Nuphar ausstößt. Woraufhin jeder Herbeigeeilte endgültig überzeugt davon ist, dass der Unhold sie sexuell belästigt hat. Als er verhaftet wird, widerspricht Nuphar der ermittelnden Polizeibeamtin ebenso wenig wie den folgenden Schlagzeilen, die dem Ex-Star sogar eine versuchte Vergewaltigung der 17-Jährigen unterstellen.
Plötzlich erfährt sie die so lange entbehrte Aufmerksamkeit, ja, sie wird sogar ins Fernsehen zum Interview eingeladen und hält die ihr so glücklich gelungene Lüge spielend durch. Und sie blüht ungeheuer auf, so umschwärmt, beachtet, man drängt sich um sie. Einer aber hat sie durchschaut: Lavie. Vom Beispiel seiner eigenen attraktiven Mutter weiß er, wie erfolgreiche Lügen jemanden auf ganz bestimmte Weise erstrahlen lassen – Lügen, mit denen sie dem selbstgefälligen Vater, einem bräsigen Oberst, immer wieder Hörner aufsetzt.
Doch Lavie verrät Nuphar nicht, vielmehr nutzt er das Geheimnis, um sie zu erpressen. Und es entsteht tatsächlich die schüchterne Beziehung, die er sich erhofft hat, egal, auf welch tönernen Füßen sie stehen mag. Doch wie das mit Lügen ist, gebiert eine die andere und führt unweigerlich zur nächsten. Nicht jede aber wird so ignoriert wie z.B. die von Nuphars Großvater, der einst durch ein falsch dargestelltes Missverständnis zum Kriegshelden wider Willen hochstilisiert wurde.
Nicht nur immer spannender wird das Ganze sondern auch abgründiger. Längst ist der Punkt erreicht, wo jedes Zurück üble Folgen für Nuphar hätte. Das Lügengebräu treibt jedoch weitere Blüten und man fiebert dem Platzen entgegen. Fazit: ein großartiger Roman, der bestens zu unserer Zeit der schnell aufgebauschten Fake-News und ihrer oft fatalen Auswirkungen passt. Zugleich spürt man die tiefe Kenntnis der gelernten Psychologin in sämtlichen der exzellenten Charakterzeichnungen. Bleibt zu erwähnen, dass das Alles sehr schön erzählt und stilvoll übersetzt ist.

# Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin (aus dem Hebräischen von Helene Seidler); 336 Seiten; Kein & Aber Verlag, Zürich; € 24

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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