MARGARET ATWOOD: DAS HERZ
KOMMT ZULETZT
In der großen Finanzkrise von 2008/09 sind in den USA viele tausend Mittelständler mit
feinem Haus und Zwietwagen quasi über Nacht derartig verarmt, dass ihnen als Bleibe nur
noch eines ihrer Autos und ein Berg von Schulden blieb. Was aber, wenn es eine viel
krassere Krise gäbe, begleitet von 40 Prozent Arbeitslosigkeit und ohne irgendeinen
helfenden Staat?!
Aus genau der Situation einer implodierten Wirtschaft in der ganz nahen Zukunft hat
Margaret Atwood ihren jüngsten Roman Das Herz kommt zuletzt entwickelt.
Zweierlei sei gleich vorweg gesagt: der Titel ist alles andere als romantisch gemeint und
in seiner Realitätsnähe kommt diese dystopische Geschichte noch weit autentischer daher
als ihr düsteres Meisterwerk Der Report der Magd von 1985 das nicht
ohne Grund aktuell in den USA erneut zum Bestseller geworden ist.
Hier sind es Stan und Charmaine, ein etwas naives Paar, das sich in ihrem alten Kleinwagen
durch die Nächte zittert, stets in der Furcht vor Überfällen noch ärmerer Habenichtse.
Seinen Bruder Connor, der sich schon immer skrupellos und entsprechend erfolgreich durchs
Leben schlug, wagt Stan zwar anzupumpen, Rettung aber verheißt schließlich ein
soziales Experiment: das Positron Project.
Die Versprechungen sind so verlockend, dass die Beiden unverzüglich unterschreiben. Auf
Lebenszeit muss es sein und verbunden mit einem erheblichen Verlust von Rechten.
Aber bekanntlich werde man von der sogenannten persönlichen Freiheit nicht
satt, sagen sie sich. In der Zwillingsstadt Consilience/Positron wird ihnen ein sehr
geordnetes zweigeteiltes Leben geboten. Je einen Monat genießen sie ein schönes
Häuschen, regelmäßige Mahlzeiten und keinerlei Sorgen.
Den jeweils zweiten Monat verbringen die Teilnehmer in orangener Sträflingskleidung in
der einstigen Vollzugsanstalt-Nord mit nützlichen Beschäftigungen. Als Wärter und
sonstige Beamte fungieren dabei jeweils diejenigen, die gerade draußen leben.
Ihre Häuser teilen sich im Übrigen jeweils zwei Paare, wobei ein strenges Kontaktverbot
zwischen den Tauschpartnern gilt. Genau dies allerdings geht schief, denn Charmaine
stößt durch einen kleinen Zufall auf Hauspartner Max und Stan dann auf dessen Partnerin
Jocelyn.
Mit sehr unterschiedlichen Folgen ohne Wissen der eigenen Partner. Wobei auch die
innige Beziehung Schaden nimmt, denn die sonst so brave Charmaine wird bei Max zum
gierigen Luder, während Stan anderweitig erkaltet. Doch es folgt eine viel heftigere
Erschütterung durch eine Art Buchungsfehler bei Positron, wo unter Big Boss Ed ohnehin
vieles in dem glorreichen System anders ist, als es erscheint.
Stan arbeitet dort in der Hühnerfarm mit obskuren Begleiterscheinungen. Charmaine dagegen
gibt in naiver Sorglosigkeit die freundliche Dame mit der Todesspritze für angebliche
Schwerverbrecher. Und abends geht sie dann wie immer in ihren Strickkreis. Je mehr aber
die Beiden durch den Buchungsfehler in neue, immer bizarrere Bahnen abgleiten, desto mehr
offenbart sich das wahre monströse Geschäftsmodell von Positron.
Organverkäufe, das Schaffen von Sexsklaven durch Neurochirurgie bis hin zu Säuglingsblut
für Schönheitsfarmen eine schräge Spirale von Ereignissen dreht sich und Stan
wird zum Werkzeug, mit dem Positron auffliegen soll. Mehr aber sei von diesem surrealen
und doch so realistischen Abenteuer nicht verraten.
Wie ein mit genüsslichem schwarzen Humor und satirischer Scharfzüngigkeit gezogenes
Spinnennetz breitet die große alte Dame der kanadischen Literatur diese Geschichte aus.
Sie bedient sich dabei einer schnörkellosen und durchaus auch rüden Sprache und beweist
zugleich ein tiefes psychologisches Verständnis für die Anfälligkeiten und Abgründe
ihrer Figuren. Und wer wäre wohl in seiner hoffnungslos prekären Lage wirklich gefeit
gegen ein solch glücksverheißendes Rettungsangebot wie das von Positron?!
Fazit: ein provokantes, hinterhältig humorvolles Meisterwerk von erschreckender
Aktualität. Womit sich Margaret Atwood einmal mehr in eine Reihe stellt mit George Orwell
und Aldous Huxley.
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