CHARLES C. MANN: „AMERIKA VOR KOLUMBUS“


Ein wenig besiedelter Doppelkontinent, viel üppig wuchernde unkultivierte Natur und darin ziemlich wilde menschliche Gestalten – dieser Eindruck über das Amerika, das Christoph Kolumbus 1492 bei seiner Ankunft vorfand, hat sich über Jahrhunderte gehalten und auch der größte Teil der Wissenschaft unterstützte dieses Bild bis in die Gegenwart.
Um so gravierender erweisen sich da die Darlegungen des Wissenschaftsautors Charles C. Mann unter dem Titel „Amerika vor Kolumbus. Die Geschichte eines unentdeckten Kontinents“. Es waren Europäer, die sich den Kontinent untertan machten und dessen Bild für die Nachwelt prägten. Das der US-Erfolgsautor nun umfassend und wissenschaftlich fundiert widerlegt. Wobei die neuen Sichtweisen es nicht immer leicht haben, obgleich sich ständig weitere Erkenntnisse zur Untermauerung finden.
Mann hat seine Ausführungen aufgeteilt in die Kapitel Demographie, historische Ursprünge und ökologisches Umfeld der Ureinwohner, die ja nach wie vor als Indianer bezeichnet werden, obwohl das ethnologischer Unfug ist und nur auf Kolumbus' Irrtum bei seiner Suche nach dem Seeweg nach Indien beruht. Und diese „Rothäute“ wurden zudem schon zahlenmäßig völlig unterschätzt, denn ihre mutmaßliche Bevölkerungszahl belief sich auf 90 bis 112 Millionen, während die Heimat der europäischen Eindringlinge 1492 nur etwa 60 Millionen aufwies.
Und diese „Indianer“ waren in ihrer kontinentalen Aufteilung so verschieden wie Türken und Schweden mit etlichen Sprachen. Es gibt Überlieferungen von großen Siedlungen und die Inka-Metropole Tenochtitlan war in ihre Glanzzeiten größer als Paris. Doch die aufgrund der isolierten Lage des Kontinents deutlich geringere genetische Durchmischung hatte eine fatale Konsequenz bei der ersten Begegnung mit den Europäern: die fehlende Immunität gegen deren Zivilisationskrankheiten.
So waren es nicht die Feuerwaffen, die Kriegstechniken und die furchteinflößenden Pferde, die die indigene Bevölkerung besiegten. Es waren die eingeschleppten Seuchen wie Typhus, Tuberkulose, Grippe und allen voran die Pocken, die in einem beispiellosen Siegeszug zur demographischen Katastrophe führten. Geschätzte 95 Prozent der Ureinwohner wurden in atemberaubender Geschwindigkeit dahingerafft. In manchen Fällen fanden die Konquistadoren bereits entvölkerte Städte vor, weil die Infektionen ihnen rapide vorangeeilt waren.
Doch diese „Indianer“ waren nicht nur anders, als es später in den Geschichtsbüchern Eingang fand, auch ihre Ursprünge reichten offenbar viel weiter zurück als angenommen. Hatten wissenschaftliche Untersuchungen bisher die Clovis-Kultur in New Mexico auf um die Zeit vor 13.000 Jahren datiert, lassen jüngere wissenschaftliche Untersuchungen auf erste menschliche Spuren auf dem Kontinent bereits vor 30.000 Jahren schließen.
Aber auch die Einschätzung der „Wilden“ als unkultiviert widerlegt der Autor, denn nicht nur in den wenigen großen Reichen wie denen der Azteken, Inkas und Mayas gab es bereits Hochkulturen. Auch die Art der Urbarmachung der Natur, des Siedlungsbaus und vieles mehr war nicht primitiv sondern einfach anders. Zudem fanden die weißen Eroberer und Siedler nur vermeintlich unberührte Wälder und Steppen vor. Das waren jedoch einst Kulturlandschaften gewesen, die nach dem rasanten Untergang ganzer Völkerscharen schlichtweg so verwildert waren, dass sie von den nachrückenden Europäern fälschlich als unkultiviert wahrgenommen wurden.
Ressentiments und Rassismus sorgten obendrein für vielerlei Irrtümer über die tatsächlichen komplexen Errungenschaften der Ureinwohner. Sie hatten Schriftsysteme, Kalender, mathematische Berechnungen, der Städtebau brachte Hochkarätiges hervor und im Ernährungswesen wurden unter anderem Mais und Kartoffeln domestiziert.
Fazit: ein faszinierendes und überaus spannend zu lesendes Sachbuch, das mit brillanten Beweisführungen die Sichtweisen auf die vermeintlich „neue Welt“ geradezu revolutioniert und zeigt, in welchem Ausmaß auf dem neu entdeckten Kontinent eine „alte“ Welt existierte, die der weiße Mann nun mit Dünkel, Ignoranz und seinen todbringenden „Gastgeschenken“ in einen unfassbar rasanten Niedergang schickte.

# Charles C. Mann: Amerika vor Kolumbus. Die Geschichte eines unentdeckten Kontinents (aus dem Amerikanischen von Bernd Rullkötter); 718 Seiten, div. Abb.; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 29,95

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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