ULRICH SCHACHT: „NOTRE DAME“


Einen großen Nachwenderoman hat mit Ulrich Schacht ein Autor verfasst, der besonders viel DDR „genießen“ durfte. Er wurde im Gefängnis geboren, weil seine Mutter politisch angeeckt war und auch er selbst landete 1973 wegen sogenannter staatsfeindlicher Hetze für sieben Jahre im Bau. Allerdings wurde er nach drei Jahren von der Bundesrepublik freigekauft.
„Notre Dame“ lautet der Titel des Romans und man darf ihm schon deshalb stark autobiografische Züge unterstellen, weil Ich-Erzähler Torben Berg eine nahezu kongruente Vita aufweist. Auch ihn verschlug es nach dem Freikauf nach Hamburg, wo er als Journalist bei einer großen Tageszeitung reüssierte. Wobei Berg ein wenig aus der Norm fällt und sein Chefredakteur weiß, dass er ihn nicht für jedes Thema einsetzen kann.
Im Buch braucht es einen langen Anlauf mit vielen komplexen Reflektionen. Die lähmen den Lesefluss immer wieder, weil sie einerseits voller undeutlicher Andeutungen sind und andererseits mit einer gewissen inhaltlichen wie stilistischen Anmaßung spezielles Wissen einfach voraussetzen. Zum Hemmschuh werden zudem eingestreute, teils recht sperrige Gedichte. Aber schließlich bezeichnet sich der unübersehbar sehr von sich überzeugte Ich-Erzähler – in dieser Reihenfolge gewichtet – als Romantiker, Schriftsteller und Lyriker.
In seinem Hauptberuf aber wird er nun gleich nach dem Mauerfall zu jenem Konzert entsandt, das Wolf Biermann am 1. Dezember 1989 in Leipzig gab. In dessen Nähe Berg einst im Bau gesessen hatte. Statt düsterer Gedanken begegnet ihm im Anschluss dort jedoch die etwa eine Generation jüngere Studentin Henrike, bald zärtlich „Rieke“ genannt. Beim Ich-Erzähler knistert es sofort heftig und seinem intensiven Liebeswerben gibt die Studentin recht bald nach, obwohl sie einen Freund hat.
Doch die vor allem seitens Berg sehr leidenschaftliche Affäre gestaltet sich wenig gradlinig. Er fährt nach Dänemark und beginnt dort ein Buch im Buch für Rieke. Die dann allerdings ihr vereinbartes Kommen mit einem langen Brief absagt. Die Prosa springt auch weiter hin und her und Berg fühlt sich mal vom Teufel und mal vom Clown geritten. Nach seinem Eindruck – und offenbar nur nach seinem – empfindet Rieke ähnlich wie er, weiß nur nicht so recht, was sie wirklich will.
Als zwischendurch die bildhübsche aber eher nüchterne Ehefrau Karla von seinem Liebesreigen erfährt, droht sie Konsequenzen an, falls er das nicht abbricht. Wogegen Tochter Charlotte als Teenager durchaus Verständnis für ihren alten Herrn aufbringt. Doch die Erfüllung von Bergs Liebesträumen klappt ohnehin nur in seinem Buch im Buch. Zwar fährt Rieke nicht nur darin tatsächlich mit ihm in seine Sehnsuchtsstadt Paris, aber ein Happyend deutet sich nicht einmal an.
Das Alles endet im Silvestergottesdienst in der berühmten Kirche, die dem Roman auch den Titel gab. Und es weist ihm gewissermaßen den Weg zurück ins „echte“ Leben. Im Grunde genommen also eine Geschichte, die interessant und bewegend ist, zumal die Gedanken und Gefühle so kurz nach der Wende eine solch große und authentische Rolle spielen.
Wäre da nur nicht diese übertrieben hochgestochene Sprache, die in ihrer Bildungsbürgerhaftigkeit teils bis an den Rand des noch Ernstzunehmenden geht. Da möchte man als nicht ganz ungebildeter Leser zuweilen fragen: „Hätten Sie es nicht eine Nummer kleiner und vor allem auch lebensnäher, Herr Schacht?!“

# Ulrich Schacht: Notre Dame; 431 Seiten; Aufbau Verlag, Berlin; € 22

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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