PAUL AUSTER: 4 3 2 1
Paul Auster zählt seit langem zu den ganz großen amerikanischen Autoren. Mit seiner
Neigung zu dunklen, komplexen Romane hatte er zwar stets bewundernde Leser und Kritiker,
doch für den weltweiten Bestseller waren seine Werke zu intellektuell und anspruchsvoll.
Nun aber pünktlich zum 70. Geburtstag in diesem Februar legt der bekennende New Yorker
mit 4 3 2 1 nicht weniger als sein Opus Magnus vor. Mit besten Chancen auf
einen Welterfolg, denn zu allen bekannten Qualitäten dieses Autors kommt nun auch noch
eine gewisse Leichtigkeit des Schreibens hinzu, die im Zusammenwirken mit einer
einzigartigen Geschichtenkonstellation umgehend für eine hinreißende Sogwirkung sorgt.
Angelegt ist dieser opulente Roman in vier Biographien einer Person als eine Art Leben in
verschiedenen Variationen. Dieser Hauptakteur Archibald Isaac Ferguson wurde nicht von
ungefähr am 16. März 1947 geboren und damit nur einige Wochen nach dem Autor, denn die
autobiographischen Elemente sind unverkennbar. Und ganz sicher so gewollt, denn Paul
Auster hat über dieses Werk selbst gesagt, es sei das Buch meines Lebens.
Bevor jedoch der fast nur noch schlicht Ferguson genannte Protagonist in seinen
Lebensansätzen erscheint, wird der Weg seiner Vorfahren in die USA und in die obskure
Adoption ihres Familiennamens geschildert. Als Isaac Reznikoff, 19-jähriger Jude aus
Minsk, am Neujahrstag 1900 auf Ellis Island ankommt, hatte ihm ein Mitreisender zu einem
geläufigeren Namen geraten. Nach langer Warterei müde und nervös geworden, stammelte er
jedoch nur auf Jiddisch: Ich hob fargessen. Woraus der gleichgültige
Einwanderungsbeamte ein schlichtes Ichabod Ferguson machte.
Enkel Ferguson aber lebt nun in den 50er- und 60er Jahren in vier Variationen, für die
normale, alltägliche Nuancen und Zufälle unterschiedliche Entwicklungen auslösen. Mal
wird sein Leben von der Trennung der Eltern geprägt, während sie in einem anderen Strang
zusammenbleiben. Mal in knappen Umständen lebend, mal gut situierte Mittelständler,
bleibt es jedoch stets bei der Person unseres Fergusons als das jeweilige
Porträt des Künstlers als junger Mann.
Da nämlich gehört zu den Konstanten sein Faible für Baseball, Kino und das Schreiben,
wozu außerdem ein grenzenloser Bildungshunger kommt. Selbst der Ferguson, der schon mit
13 Jahren stirbt, weil er unbekümmert bei einem Gewitter in den Wald geht und von einem
Ast erschlagen wird, hat an seiner Schule mit einer Kinderzeitung für Aufsehen und
Aufruhr gesorgt. Ein andermal verliert Ferguson den Vater, hat 20-jährig mit seinem
Debütroman einen Sensationserfolg und kommt durch einen Autounfall um.
Im Gegensatz zu Austers früheren Romanen, in denen Frauen selten zentrale Rollen zukamen,
sind es diesmal gleich zwei eindringliche weibliche Rollen. Mutter Rose prägt Archie in
jeder der Variationen stark. Doch noch stärker wirkt die gleichaltrige Amy Schneiderman,
denn ihr schreibt Auster z.B. die unvergessliche erste große Liebe zu. Oder noch
schmerzlicher ist die begehrte angeheiratete Stiefschwester, die tabu bleiben muss.
Letztlich scheitern alle Fergusons auf die ein oder andere Weise an dieser
Sehnsuchtsfigur. Während der junge Mann ständig intensiven Hunger auf Sex hat, kommt
für den einen von ihnen auch eine deutlich homosexuelle Variante hinzu. Die allerdings
einen gern mitgenommenen Nebeneffekt hat: der Musterung wegen des Vietnam-Kriegs kann er
zwar nicht entgehen, mit diesem Makel aber bleibt er außen vor.
Wie ohnehin bei all den intensiven und immer wieder fesselnden Lebenserfahrungen bis in
die 70er Jahre hinein stets auch die bewegenden Geschehnisse der Außenwelt in seine
Schilderungen einbezogen sind. Ob Studentenrevolte, Rassenunruhen oder die Umtriebe der
Weathermen: sie spielen hinein und immer wieder auch mit Ferguson als Beteiligtem. Womit
das aufgepeitschte gesellschaftspolitische Klima eine sehr reale Komponente dieses
Bildungsromans par excellence darstellt.
Auf die durchgehende Frage, ob Erziehung oder die Natur des Einzelnen das Schicksal mehr
bestimmen, gibt es eine klare Präferenz für letztere. Auster brilliert mit einer klaren,
natürlichen Sprache, die dennoch mit großartigen Wendungen funkelt. Und dieser
70-Jährige in Bestform schildert immer wieder auch die Leiden und Freuden der Pubertät
und das wahrlich nicht wie ein alter Mann. Fazit zu diesem Großroman: grandios.
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