LAUREN WOLK: „DAS JAHR, IN DEM LÜGEN LERNTE“


„In dem Jahr, als ich zwölf wurde, lernte ich zu lügen.“ Mit diesem einzigartigen Satz eröffnet US-Erfolgsautorin Lauren Wolk ihren ersten Jugendroman. Er setzt im Herbst 1943 im ländlichen Pennsylvania ein, wo Annabelle McBride mit Eltern, Großeltern und zwei kleineren Brüdern in einem bescheidenen Farmhaus lebt. Vom fernen Weltkrieg bekommen sie nur insofern mit, dass auch hier in der Nachbarschaft um den ein oder anderen gefallenen Sohn getrauert wird.
Der Titel des Romans lautet „Das, Jahr, in dem ich Lügen lernte“ und das beginnt damit, dass in jenem Oktober eines Morgens Betty Glengarry in die Schule kommt. Besser gesagt: sie platzt in diesen einen großen Schulraum, in dem fast 40 Kinder aller Jahrgänge gemeinsam unterrichtet werden, und sie führt sich mehr als selbstbewusst ein.
Kräftig, blond und mit blauen Unschuldsaugen strahlt die 14-Jährige etwas Beunruhigendes aus und wie man hört, wurde sie als „schwer erziehbar“ aus der Stadt hierher zu ihren Großeltern geschickt. Dass Betty jedoch weit mehr als nur schwer erziehbar ist, erfährt Annabelle umgehend am eigenen Leib. An der Wolfsschlucht, über die es gruselige Geschichten gibt und die die Kinder auf dem Schulweg bisher trotzdem ohne Ängste durchquerten, lauert Betty den Dreien auf.
Und erweist sich als Wegelagerer, denn sie fordert für den nächsten Tag „ein Geschenk“. Um die Ernsthaftigkeit ihrer Forderung zu unterstreichen, weist sie auf Annabelles wunden Punkt hin: ihre kleinen Brüder. Als Annabelle am anderen Morgen jedoch nur einen Penny zu bieten hat, zeigt die Große erstmals offen ihre ganze ungehemmte Brutalität, indem sie mehrfach kräftig mit einem Stock zuschlägt.
Bei der nächsten Wegelagerei bewahrt der seltsame Habenichts Toby, ein freundlich wortkarger Veteran aus dem Ersten Weltkrieg, der als Eremit in den Hügeln lebt, Annabelle vor einem weiteren Angriff. Dass die damit aber nicht gerettet ist, demonstriert Betty, indem sie vor ihren Augen mit sadistischem Genuss einen Vogel tötet. Dennoch scheint sich alles ein wenig zu beruhigen, als nun der ältere Farmerjunge Andy mal wieder im Unterricht auftaucht.
Zwischen ihm und der frühreifen Betty springt sofort der Funke über. Dennoch ist dies nicht das Ende der Bösartigkeiten, die vielmehr sogar noch weitaus übler werden. Wobei die kindlich unverdorbene Icherzählerin Annabelle bereits jetzt den für sie so unerträglichen Zustand beklagt, jemand anderem Böses zu wünschen und lügen zu müssen. Dann eskaliert die Situation immer mehr. Erst entgeht ihr Bruder James nur knapp einem infernalischen Anschlag und kurz darauf wird Annabelles beste Freundin Ruth so schlimm von einem Steinwurf getroffen, dass sie ein Auge dadurch verliert.
Inzwischen hat sich Annabelle notgedrungen ihren liebevollen Eltern anvertraut und es kommt zu einem denkwürdigen Besuch bei den Glengarrys. Betty aber ist in ihrer Bösartigkeit so heimtückisch, alles von sich zu wälzen und macht sogar – mit tragischem Erfolg – den harmlosen Außenseiter Toby zu einem einem schließlich gejagten Verdächtigen für gleich mehrere Missetaten.
Mehr sei von dieser hochspannenden Geschichte mit ihren dramatischen Wendungen nicht verraten. Die ist so fesselnd geschrieben – und ebenso großartig wie anspruchsvoll ins Deutsche übertragen – dass man bis zuletzt mit Annabelle mitfiebert. Und es gehört zu den wertvollen Erkenntnissen der Ich-Erzählerin, wenn sie sagt: „In dem Jahr, in dem ich zwölf wurde, begriff ich, dass alles, was ich tat und sagte, Folgen hatte.“
Dieses ernste und lebensnahe Buch wird nicht nur junge Leser ab zwölf Jahre ungemein bereichern, zumal es an Harper Lees Klassiker „Wer die Nachtigall stört“ erinnert, dessen Qualitäten dieser Roman durchaus erreicht.

# Lauren Wolk: Das Jahr, in dem ich lügen lernte (aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann); 267 Seiten; Hanser Verlag, München; € 16

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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