NATHAN HILL: GEISTER
Im Spätsommer 1988 ist Samuel elf, ein schüchternes Kind mit häufigen Weinanfällen.
Seine genervte Mutter hatte derweil in winzigen Schritten ihr Verschwinden vorbereitet.
Bis zu jenem Tag, als sie mit nichts als einem Koffer verschwand: Sie reduzierte
ihre Existenz, bis sie nur noch sich selbst entfernen musste.
Dies ist lediglich der Prolog, der ein wenig verständlich macht, warum Samuel so wird,
wie er schließlich ist, als Nathan Hill seinen Debütroman Geister 23 Jahre
später mit einem läppischen Vorfall beginnt, der umgehend ein infernalisches
Mediengetöse freisetzt. Sheldon Parker, Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur und
bisher absoluter Außenseiter, macht bei seinem Besuch in Chicago einen ungeplanten
Abstecher in einen Park und wird völlig überraschend attackiert.
Eine etwa 60-Jährige in Yoga-Klamotten schleudert Kiesel vom Gehweg auf ihn und
beschimpft ihn als Schwein. Und schon ist der Vorfall auf allen Sendern, die Frau im
Handumdrehen als Packer-Attacker stilisiert. Wasser auf die Mühlen des am
Auge verletzten Kandidaten, eines Typen, gegen den Donald Trump geradezu liberal und
ausländerfreundlich wirkt. Die Angreiferin namens Faye Andresen-Anderson aber wird wegen
alter Akten aus den 68er Studentenunruhen ebenhier als terroristische
Hippie-Radikale und Prostituierte gebrandmarkt.
Szenenwechsel zu Samuel Anderson, der seit jenem Sommer 1988 mutterlos ist und als
Juniorprofessor für Literatur an einem College in der Nähe Chicagos arbeitet. Seinen
Frust versucht er mit extensivem Spielen von World of Elfscape im Internet zu
tilgen und aktuell kommt noch Ärger mit Laura Puttsham hinzu. Die ebenso dümmliche wie
narzisstische Studentin hat er beim Pfuschen erwischt und es entspinnt sich ein Kleinkampf
ums Rechthaben mit allerlei Folgen.
Was aber nur ein Nebenschauplatz ist, denn Samuel hat ein noch viel drängenderes Problem.
Durch eine Kurzgeschichte ergatterte er einen lukrativen Romanvorvertrag, den üppigen
Vorschuss aber verpulverte er ohne etwas zu liefern. Und just während ihn Guy Periwinkle
seitens des Verlages eine dicke Klage androht, meldet sich Rechtsanwalt Rogers und fordert
seine Hilfe: Samuel soll seine Mutter, der Packer-Attackerin, mit einer Art
Entlastungsbrief vor den möglicherweise massiven strafrechtlichen Folgen bewahren.
Erstmals hört er also nach 23 Jahren etwas von ihr. Es kommt zu einer spröden Begegnung
und so wie sie nichts von sich herauslässt, will er sich der Hilfe verweigern. Und wird
unversehens von Periwinkle in eine ganz andere Richtung gezwungen: um seiner Klage wegen
des nicht gelieferten Romans zu entgehen, soll er nun mit einem persönlichen Sachbuch
seine Mutter zerfleischen: Die Frau, wegen der er eine mutterlose Kindheit
durchleben musste.
Doch was sich hier entfaltet, ist weitaus vielschichtiger und die Zeitwechsel schaffen
eine atemberaubende Sogwirkung, wenn der Autor nun auch virtuos auf die Zeit als
verlassener Sohn eingeht. Er versteht es, von Kapitel zu Kapitel noch eine Schippe
draufzulegen und hinreißende Wendungen einzubringen. Da beschert die seltsame
Freundschaft mit dem störrischen Bishop nicht nur folgenreiche Abenteuer in der Schule
sondern auch die unvergängliche aber heimliche große Liebe zu dessen hochmusikalischer
Zwillingsschwester Bethany.
Unglaublich authentisch erweisen sich zudem jene Passagen, die in Fayes Vergangenheit
führen und ein weitaus differenzierteres und gnädigeres Bild von ihr
formen. Die Ereignisse der niedergeknüppelten Chicagoer Studentenunruhen von 1968 lassen
einen erschauern. Aber auch der Nisse (im Orginal The Nix), der den Titel
mitgeprägt hat, erhält seine gewichtige sehr reale Ausdeutung.
So wie ihr Verschwinden für Samuel ein Trauma hinterließ, so erlebte sie als
Achtjährige das ihre, als ihr wortkarger, einst aus Norwegen eingewanderter Vater, ihr
das Schauermärchen vom bösenKinder verschlingenden Wassergeist erzählte: Jedes
Leben hat einen Moment wie diesen, ein Trauma, das einen in neue Teile zerbricht. Dies war
ihr Moment.
Noch mehr von dieser Suche nach Wahrheit und Gewissheit zu verraten, verbietet sich
allerdings, denn dieser hinreißende Roman ist einerseits zutiefst menschlich, wobei es
keine strahlende Helden gibt. Andererseits schildert Nathan Hill hier mit messerscharfer
satirischer Sicht den ganz normalen US-amerikanischen Wahnsinn an dem eigentlich
nichts wirklich normal ist, dafür aber schrill, aufgeblasen und wichtigtuerisch.
Dieser vielleicht beste Roman des Jahres erweist sich als ein faszinierendes Füllhorn an
Geschichten, deren Handlungsstränge der Autor in einzigartiger Souveränität auf
schlüssige Weise zusammenführt. Da fühlt man sich an große Autoren wie John Irving
oder Jonathan Franzen erinnert. Fazit: hier liest man sich schwindelig und süchtig und
bedauert nach stolzen 864 Seiten, tatsächlich am Ende zu sein.
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