ELENA FERRANTE: „MEINE GENIALE FREUNDIN“


Mit erheblicher Verzögerung kommt Elena Ferrantes großer vierteiliger Roman um zwei Frauen aus Neapel nun auch zu uns. In Italien und in den angelsächischen Ländern sind diese Bücher längst gefeierte Erfolge, allerdings wurde und wird auch viel Wirbel um die Herkunft der Romane gemacht, denn: bis heute weiß niemand außerhalb des kleinen italienischen Heimatverlages, wer sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante verbirgt.
Der nun auch auf Deutsch erschienene Band 1 unter dem Titel „Meine geniale Freundin“ aber macht bereits deutlich, dass durch den Wirbel um das Autorenrätsel die literarischen Qualitäten dieser Tetralogie zu Unrecht in den Hintergrund gedrängt werden. In dem lebensprallen Zyklus widmet sich dieser Auftakt der neapolitanischen Saga dem Untertitel folgend „Kindheit, frühe Jugend“ von Ich-Erzählerin Elena Greco, genannt Lenú, und Raffaella Cerulla, von Elena als Einziger stets nur Lila genannt.
Beide Mädchen werden 1944 in Rione, einem ärmlichen Stadtviertel Neapels geboren und lernen sich in der Volksschule kennen. Und werden sogleich unzertrennliche Freundinnen, wenngleich das Verhältnis zwischen ihnen stets neben größter Vertrautheit auch von Rivalität geprägt ist. Eröffnet aber wird der Reigen der mitreißenden Lebensschilderungen durch die mittlerweile 66-jährige Elena, die der Heimat seit langem den Rücken gekehrt und es im Norden des Landes zur angesehenen Schriftstellerin gebracht hat.
Als nun der leichtlebige Sohn Lilas bei ihr anruft, um ihr das rätselhafte Untertauchen seiner Mutter zu melden, beginnt diese mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen an das Aufwachsen mit der „genialen Freundin“. Eine Bezeichnung, in der durchaus eine gewissen Bitterkeit mitschwingt, denn obwohl sie ein deutlich erfolgreicheres Leben hatte als Lila, fühlt sie noch immer, dass ihr die Freundin mit ihrer frechen Intelligenz und der widerborstigen Durchsetzungskraft zeitlebens einen Schritt voraus war.
Und das gilt eben schon in diesen Kinder- und Jugendtagen, da Lila stets die besseren Noten schafft, obwohl ihr Bildungshunger durch die ärmlichen Familienverhältnisse als Tochter eines einfachen Flickschusters gebremst wird. Wie die kleine Autodidaktin sich selbst das Schreiben und Lesen und später sogar fremde Sprachen beibringt, ist zwar bewundernswert, doch – es wird ihr nicht viel nützen. Sie wird im Haushalt und in der Werkstatt gebraucht und findet selbst dann nicht den Weg aus dem heruntergekommenen Rione, als sie sich in die Ehe flüchtet.
Auch die Ich-Erzählerin als Tochter eines Pförtners im öffentlichen Dienst muss schwer um ihre Bildung kämpfen, schafft es allerdings mühsam in die höhere Schulausbildung. Begleitet wird beider zähes Ringen aber von weit mehr als nur den kleinen persönlichen Erlebnissen, denn diese Geschichte ist hinreißend eingebettet in das typische Leben im Neapel der 50er und 60er Jahre. Eine Schar illustrer Nebenfiguren sorgt für authentisches Leben voller Gegensätze.
Jeder gegen jeden, die Männer kujonieren die Frauen, Eltern behandeln ihre Kinder mit rabiaten Erziehungsmethoden. Wie Rohheit und Unterdürckung ohnehin eine allgegenwärtige Rolle spielen, zumal es auch in Rione die Padrones von Mafia und Camorra gibt. Zugleich ist das Italien dieser Ära noch zerrissen von Faschismus, Kommunismus und vielen Nachwirkungen des Weltkrieges.
Was Wunder, wenn die erwachsene Elena schreibt: „Ich sehne mich nicht nach unserer Kindheit zurück, sie war voller Gewalt.“ So nutzte Lenús geniale Freundin schließlich auch das kleine Zeitfenster blühender jugendlicher Attraktivität, um den Nachstellungen eines Camorra-Sprösslings zu entgehen, indem sie mit 16 Jahren den Sohn des Fleischhändlers zur Eheschließung verführt, auch er aus einer der „Familien“ in Rione.
Auch die Passagen über dieses spannungsgeladene Ereignis fesseln mit ihrer atmosphärisch dichten und geradezu sinnlich durchsetzten Prosa. Selbst die außergewöhnliche Lila wirkt da glaubhaft, wird sie doch ausschließlich von der Ich-Erzählerin geschildert und in Bewunderung wie auch Rivalinnengroll verklärt. Beide Mädchen ahnen, dass nur Bildung ihnen eine reale Chance bieten kann, aus der Misere ihrer kleinen schäbigen Welt auszubrechen. Gleichwohl ist dies nicht nur ein hervorragend gelungener Bildungsroman, er zeichnet ebenso ein großartiges Panorama Süd-Italiens in jenen Zeiten.
Ob Pseudonym-Trickserei und PR-Getöse - „Meine geniale Freundin“ ist ein hochklassiges Stück Literatur und man darf sich schon auf die weiteren drei Bände freuen. Der Verlag will sie in halbjährigen Abständen herausbringen und danken muss man ihm auch dafür, dass er mit Karin Krieger eine solch exzellente Übersetzerin für dieses Epos beauftragt hat.

# Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Kindheit und Jugend (aus dem Italienischen von Karin Krieger); 425 Seiten; Suhrkamp Verlag, Berlin; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: BEL 1189 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de