HENNING MANKELL: DIE
SCHWEDISCHEN GUMMISTIEFEL
Als Henning Mankell (1948-2015) seine autobiografischen Erzählungen Treibsand Was
es heißt, ein Mensch zu sein veröffentlichte, dachte man wegen seiner schweren
Krankheit, dies sei sein letztes Werk. Doch der berühmte schwedische Kriminalautor
schrieb im Wissen des nahen Todes noch einen großen Roman, in den viel von seiner
Ausnahmesituation einfloss.
Kurz vor seinem Tod im Oktober 2015 erschien das weise Alterswerk und nun liegt es unter
dem Titel Die schwedischen Gummistiefel auch auf Deutsch vor. Es ist eine für
sich allein stehende Fortsetzung seines großartigen Romans Die italienischen
Schuhe von 2007 und spielt rund acht Jahre später nach diesem. Fredrik Welin, der
nach einem katastrophalen ärztlichen Fehler vor vielen Jahren seinen Beruf als Chirurg
aufgab, lebt auf einer abgeschiedenen Schäreninsel vor der schwedischen Küste in dem
Haus, das ihm die Großeltern hinterließen.
Zu den Schärenbewohnern hat er einen eher distanzierten Kontakt und noch weniger zur sehr
eigenwilligen, unsteten Tochter Louise, von deren Existenz er erst vor zehn Jahren
erfahren hatte. Zum Auftakt des Romans aber gibt es gleich ein Schockerlebnis, das den
wortkargen Ich-Erzähler in seinen Grundfesten erschüttert. Mitten in der Nacht erwacht
er von Getöse und gleißendem Licht: das schöne Haus steht in Flammen!
Mit nichts als einem Regenmantel und zwei linken Gummistiefeln bekleidet rennt er hinaus
und muss fassungslos mitansehen, wie das Haus und mit ihm Tagebücher, Fotos, Kleider,
einfach alles ein Opfer des Feuers wird. Nichts von meinem 70-jährigen Leben war
verblieben. Ich besaß nichts mehr. Alles was übrig bleibt, ist der abseitig
stehende Wohnwagen der Tochter, ein kleines Zelt und sein einfaches Motorboot.
Ein wenig Hilfe erhält er von seinem häufigsten Besucher, dem alten Postboten Jansson.
Dann sind da noch die seltsam fremde Einäugige Oslovski, die Café-Besitzerin Veronika
und der alte Nordin, dem der Bootsbedarfsladen gehört. Fredriks Leben war ohnehin
brüchig gewesen und mindestens so einsam wie das aller hier in dieser kargen
Inselgesellschaft.
Doch während er noch mühsam versucht herauszufinden, ob und wie ein neues Leben möglich
sein könnte, begegnet er der Lokalreporterin Lisa Modin. Die ebenfalls vom Leben
gezeichnete 40-Jährige interviewt ihn und will wissen, was er nach diesem
Schicksalsschlag empfindet und wie er damit umgeht. Fredrik aber verliebt sich in sie, die
nach einem uralten Liebeskummer allerdings recht spröde reagiert.
Zugleich naht die nächste Zumutung in Gestalt der Polizei an der Brandstelle. Die beginnt
tatsächlich ihn zu verdächtigen, den Brand angesichts einer stattlichen Versicherung
selbst gelegt zu haben. Inzwischen hat er jedoch Kontakt zu Louise aufgenommen und
erfährt nicht nur, dass sie in Paris wegen Diebstahls inhaftiert ist, sondern auch dass
sie schwanger ist. Bei all den Lebenserinnerungen, die er in dieser drückenden Zeit
wälzt, bereitet ihm der Gedanke an diesen Nachwuchs ein Gefühl von Hoffnung und
Lebenswillen.
Auch deshalb setzt er sich vor der drohenden Verhaftung zu seiner Tochter ab und hilft ihr
aus der Bedrouille. Aus der ihn zur selben Zeit daheim selbst ein erneutes Ereignis
befreit wieder ist über Nacht ein Schärenhaus abgefackelt worden und der Verdacht
gegen ihn damit hinfällig. Und langsam beginnt er sie zu überwinden, diese
unklare, aber wachsende Sehnsucht nach all dem, was verbrannt war.
Auch eine dritte Brandstiftung und die Erkenntnisse über die wahren Hintergründe machen
trotzdem keinen weiteren Kriminalroman aus diesem bewegenden Abschiedswerk. Das ist bei
aller Melancholie einerseits ein sehr persönliches Buch geworden, andererseits äußert
es zwar so manches Zweifeln am Sinn des Lebens und verfällt dennoch niemals in
Hoffnungslosigkeit.
Wie stets hat Henning Mankell bedächtig und unprätentiös geschrieben, aber auch so
manchen lange nachhallenden Satz voller Intelligenz und Lebensweisheit geprägt. Und die
Sogwirkung dieses leisen literarischen Meisterwerks hält an bis zu jenen wunderschönen
Schlusssätzen: Bald würde der Herbst kommen. Aber die Dunkelheit schreckte mich
nicht mehr.
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