NIKOLAUS WACHSMANN: „KL“


Trotz zahlloser Publikationen und Dokumentationen zum Nazi-Regime und seinen übelsten Auswüchsen liegt erst jetzt ein umfassendes wissenschaftliches Werk zum Thema der Konzentrationslager vor. Verfasst hat es der am Birkbeck College der University of London lehrende Historiker Nikolaus Wachsmann, geboren in München und ausgewiesener Fachmann für Neuere Europäische Geschichte.
Schon der Titel überrascht, denn er lautet „KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“. Der Autor stellt dazu klar, dass das zumindest für deutschsprachige Menschen so berühmt-berüchtigte Akronym „KZ“ zwar krasser und irgendwie angemessener klinge, jedoch erst später aufgekommen sei. Offizieller bürokratischer Terminus Technikus war in sämtlichen amtlichen Quellen jener Zeit „KL“.
Mit einer anderen Fehleinschätzung räumt Wachsmann ebenfalls gleich eingangs auf, denn KL und Holocaust werden zu Unrecht synonym gesetzt. Die bekannten Schreckensorte Sobibor und Treblinka waren keine KL sondern reine Vernichtungslager, während Auschwitz als Symbol aller Gräuel der Nazis zwar das größte Lager für den Holocaust aber trotz der industrialisierten Tötung von einer Million Menschen teils auch ein KL war.
Der entscheidende Unterschied war, dass in den 27 Hauptlagern und den bis zu 1000 Nebenlagern die Fronarbeit für missliebige Individuen wie politische Gegner, Kriminelle, Homosexuelle, sowjetische und polnische Kriegsgefangene der Hauptzweck war. Wobei außer Frage steht, dass der Tod durch Erschöpfung, Unterernährung und Krankheit meist nicht nur billigend in Kauf genommen wurde sondern beabsichtigt war. Hinzu kamen die täglichen willkürlichen Morde und als eines der extremsten Kapitel in diesem monströsen Treiben die besonders barbarischen Menschenversuche. Bei denen der berüchtigte Arzt Dr. Mengele übrigens nur eine von zahlreichen Bestien im weißen Kittel war.
Die intensiven jahrelangen Recherchen überraschen hier mit den Zahlen jüdischer Opfer in den KL: nur rund 30 Prozent der dortigen Insassen waren Juden, denn abgesehen von den Vernichtungslagern wurden die meisten der rund sechs Millionen jüdischer Opfer zwar systematisch aber außerhalb von KL ermordet.
Die hohe wissenschaftliche Qualität von Wachsmanns Arbeit steht neben der akribischen Auswertung von Quellen, Forschungsliteratur, Tagebücher und Briefen von Lagerinsassen, Prozessunterlagen, SS- und Polizeiakten – manches davon erstmals verwendet – auf einer zweiten wichtigen Säule. Der Experte hat sein Werk in historischer Zweckdienlichkeit rein chronologisch verfasst. Schon von daher hatte er einen anderen – objektiveren – Blickwinkel als jene Zeugen und Berichterstatter aus der Sicht der Befreier wie auch der Überlebenden, die die KL von ihrem Ende her sahen und erlebten.
So beginnt die Chronik denn auch mit den ersten improvisierten Anfängen gleich nach Hitlers Machtübernahme. Schon am 22. März 1933 wurde das provisorische KL Dachau mit den ersten „Schutzhäftlingen“, zumeist Kommunisten und andere politische Gegner, gefüllt. Nicht nur dieses KL durchlief dann bis zum Zusammenbruch mit den verheerenden Todesmärschen der Häftlinge im Frühjahr 1945 etliche Umbrüche hinsichtlich organisatorischer und technischer Weiterentwicklungen.
Erst im Laufe der Jahre festigte sich das System der KL und der Autor beschreibt neben den elendigen Bedingungen der Insassen auch die Hintergründe der NS-Vernichtungspolitik, aber ebenso die Bürokratie, die Techniken und die Auswüchse der Täter – die durch etliche authentische Quellen gleichermaßen selbst zu Worte kommen wie manche ihrer Opfer.
Wachsmann, der im Übrigen auch mit den Fehlurteilen vom Vorbild britischer Concentration Camps aus dem Burenkrieg oder sowjetischer Gulag für die KL aufräumt, krönt seine alles umfassende Arbeit durch den lebendigen Stil, wie er in der angelsächsischen Geschichtsschreibung auf stets fesselnde Weise üblich ist. Dazu gehören dann auch zahlreiche Nahaufnahmen aus dem alltäglichen individuellen Horror innerhalb der Lager. Wozu auch die SS-Schergen von den hohen Chargen bis hin zum normalen Lagersoldaten oder den Kapos als deren Handlanger gehören.
Schwer zu ertragen ist das so nüchtern und wissenschaftlich objektiv geschilderte Grauen und immer wieder unfassbar die Grausamkeit und Unmenschlichkeit so vieler. Fazit: was Nikolaus Wachsmann hier ebenso brillant wie erschütternd niedergeschrieben hat, ist nicht weniger als das Standardwerk zum Thema, an dem niemand vorbeikommt, der sich künftig mit der Geschichte des Deutschen Reichs befasst.

# Nikolaus Wachsmann: KL. Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager (aus dem Englischen von Michael Bayer, Enrico Heinemann, Reinhard Tiffert, Karin Schuler), 984 Seiten, div. Abb.; Siedler Verlag, München; € 39,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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