JULI ZEH: UNTERLEUTEN
Unterleuten, das ist so ein kleines Dorf in Brandenburg, kein Supermarkt mehr, eine
Kneipe, Kindergarten, von der Wende übrig Gebliebene und einige aus dem gut eine Stunde
entfernt liegenden Berlin zugezogen. Also Ruhe, Natur und Idylle?
Unterleuten ist aber auch der Titel von Juli Zehs neuem Roman und man darf es
vorweg verraten: hier sucht man Einsamkeit vergeblich. Stattdessen ist man tatsächlich
ständig unter Leuten, dabei sind sich die meisten zumindest nicht sonderlich grün. Die
intensivste Feindschaft köchelt da zwischen den gebürtigen Unterleutnern Kron und
Gombrowski. Wobei der schmächtige Kron mit dem kaputten Bein als überzeugter Kommunist
der größte Wendeverlierer war und quasi mit allem und jedem hadert.
Ganz im Gegensatz zum bulligen Gombrowski, vor der Wende Leiter der örtlichen LPG und
1990 clever genug, daraus ein privatwirtschaftliches Unternehmen mit Biosiegel zu machen.
Wodurch er der einzige wirkliche Arbeitgeber vor Ort ist und ohne ihn kaum etwas geht.
Durch ihn kam auch Seidel zum Bürgermeisterposten, der erst nach dem Krebstod seiner Frau
erfuhr, dass diese einst das ganze Dorf für die Stasi bespitzelt hat.
So unausweichlich die echten Unterleutner auch verwandtschaftlich oder
sonstwie miteinander verknüpft sind, gilt das auf seine Weise auch für die Zugezogenen.
Überwiegend Stadtflüchtlinge, sind sie mit allerlei Illusionen hergezogen. Sei es die
von sich selbst sehr überzeugte Pferdeflüsterin Linda Franzen, die sich über etliche
Probleme ärgert, die den Bau ihres geplanten Pferdehofes verhindern, während ihren
Partner das alles nicht interessiert, denn er arbeitet als Computerfreak in der gar nicht
so fernen Hauptstadt.
Andererseits erscheint Gerhard Fließ der typische Zivilisationsflüchtling zu sein. Vom
Sozialwissenschaftsdozenten, der mit seiner Studentin und dem gemeinsamen Kind diese
vermeintliche Idylle gesucht hat und inzwischen zum griesgrämigen Vogelschutzwart mutiert
ist, leidet er an den Eigenheiten der Dörfler. Und dem schikanösen Rasenmähen des
Nachbarn.
Doch als hätte dieser kleine Kosmos nicht genug Konfliktstoff an sich selbst, platzt dann
von außen ein fieser Sprengsatz in das brüchige Gefüge. Ein Windenergie-Konzern
offeriert Pläne für einen Windpark mit zehn riesigen Rotoren direkt am Ortsrand. Die
Brachflächen für das Areal aber hat großenteils bereits ein Investor aus dem fernen
Ingolstadt für etliche Millionen ersteigert. Einfach, weil er das Geld hatte. Und
offenbar einen guten Riecher.
Da wird es plötzlich sehr ungemütlich im Dorf. Während zum Beispiel Bürgermeister
Seidel frohlockt, weil endlich Gelder für dringende Investitionen in Aussicht stehen,
sehen die Zugezogenen nicht ein, warum sie sich darauf einlassen sollen, dass der
urbane Wahnsinn sie jetzt in der selbstgewählten Abgeschiedenheit einholt. Da
treffen nun verschiedene Formen des Eigeninteresses auf Moral, sofern vorhanden.
Das steigert sich geradezu thrillerhaft bis zu einem fulminanten Finale, wenn all die
Egoismen aufeinanderprallen. Doch die Erfolgsautorin trennt keineswegs in Gut und Böse,
denn wenn sie ihren insgesamt elf Hauptakteuren jeweils eine eigene Perspektive des
Erzählten gibt, zerfallen die Identifikationen des Lesers auf virtuose Weise zur einen
oder anderen Seite durch das jeweils folgende Kapitel.
All die Eigensüchteleien und eine Kommunikation, die zur Verständigung nicht taugt,
sondern immer wieder folgenreiche Missverständnisse heraufbeschwört, wirken faszinierend
aktuell. Dabei werden diese zwei Monate im Sommer 2010 zu einem gewaltigen Antiheimatroman
mit geschliffener Sprache, der unsere Gesellschaft ebenso spannend wie präzise seziert.
Fazit: ein ganz großes literarisches Werk aus deutscher Gegenwart.
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