HOWARD JACOBSON: J
Einen ungewöhnlich dunklen, schwer zugänglichen Roman hat der britische
Man-Booker-Preisträger Howard Jacobson mit seinem neuen Buch J vorgelegt. Der
Buchstabe trägt auf dem Cover zwei Querstriche als Zeichen für die zwei Finger, die sich
Keverns Vater stets über die Lippen legte, wenn er ein J-Wort aussprechen musste.
Kevern Cohen lebt in einer Hütte am Rande des Küstenstädtchens Port Reuben und das zu
einer Zeit vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft. Die eigentliche Geschichte wäre eine
simple, denn der feinfühlige junge Drechsler ist ein Außenseiter in der ansonsten
geradezu rüpeligen Gesellschaft. Nun begegnet er Ailinn Solomon, es erblüht die große
Liebe, wenngleich die beiden bald den Verdacht hegen, dass ihr Zusammenkommen kein reiner
Zufall war.
Und tatsächlich schwebt eine seltsame Stimmung über der Gemeinschaft, die auf etwas in
der Vergfangenheit hinzuweisen scheint, für das nur die ritualhafte Bezeichnung Was
geschehen war, falls es geschehen war verwendet wird. Während Kevern und Ailinn
immer spürbarer überwacht und auch verfolgt werden, schälen sich graue Geheimnisse in
Ahnungen heraus, die auf etwas großes Entsetzliches in der Vergangenheit hindeuten. Doch
es herrscht ein strikter Grundsatz, das Gewesene konsequent auszublenden, keine
Erinnerungen zu pflegen, keine Relikte oder gar Reliquien aus früheren Zeiten
aufzubewahren.
Kevern allerdings missachtet diese nicht gebotene aber unausgesprochen von jedermann
erwartete Haltung. Er hört heimlich die alten Jazz-Schallplatten seines Vaters, er hat
die verpönten alten Möbel und er denkt oft an die Vergangenheit. Die wirklich Gefahr
für die Liebenden aber droht ausgerechnet von Ailinns mütterlicher Freundin Esme, die
ganz im Sinne des herrschenden Systems aus Überlebenden dessen, Was geschehen war,
falls es geschehen war eine neue Rasse heranzüchten will.
Hatte es eine Art religiösen Holocaust gegeben? Und warum tragen alle Menschen keltische
Vornamen und jüdische Familiennamen? Moderne Medien und Kommunikationsmittel befinden
sich in einem seltsam reduzierten Status und statt Büchern gibt es nur harmlose
Bilderbücher. Das gesellschaftliche Klima ist von heftigem Saufen und
zwischenmenschlicher Brutalität geprägt. Offenbar hat die rigorose Abkoppelung von den
schlafenden Hunden eines düsteren Vorgestern eben kein friedliches Miteinander
gefördert.
Kann es Esmes Absicht sein, diesem allgegenwärtigen Hass durch die Züchtung neuer
Hassobjekte eine Art Ventil zu schaffen? Es bleibt bis zum Schluss im Bereich der
Mutmaßungen wie auch das wahre Wesen dessen, Was geschehen war, falls es geschehen
war. Fazit: ein ebenso rätselhaftes wie beklemmendes Buch, großartig geschrieben,
aber eine Herausforderung, die kaum für genussvolles Schmökern am Kaminfeuer geeignet
scheint.
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