ABBAS KHIDER: OHRFEIGE
Ohrfeige heißt der Titel von Abbas Khiders mittlerweile viertem Roman, der
zugleich der erste sein dürfte, der sich um ein Asylbewerberheim in Deutschland dreht.
Das Besondere daran ist zudem, dass Deutsche darin überhaupt nicht zu Wort kommen.
Das ist zugleich der raffinierte dramaturgische Clou dieser so überaus authentischen
Geschichte, die Ich-Erzähler Karim Mensy hier ausbreitet. Der wie der Autor aus dem Irak
geflohene junge Mann hat Frau Schulz, die für ihn zuständige Sachbearbeiterin in der
Ausländerbehörde, geohrfeigt, ihr den Mund zugeklebt und sie mit Packband an ihren
Bürosessel gefesselt.
Bevor er seiner erneut drohenden Abschiebung durch eine weitere illegale Schleusung
diesmal nach Finnland entkommen will, soll sie die Klappe halten und sich anhören,
was er in den drei Jahren hier erlebt hat. Sie, Frau Schulz, gehören zu jenen, die
hier darüber entscheiden, auf welche Weise ich existieren darf oder soll. Er dreht
sich einen Joint und setzt an zu einem langem Monolog.
Der es in sich hat, denn Karim hat all die üblen Erfahrungen gemacht, wie sie so typisch
sind für Asylbewerber aus einem Land wie das des Saddam Hussein in den späten 90er
Jahren. Im Gegensatz zum Autor, der aus politischen Grünen zeitweise inhaftiert war,
gefoltert wurde und erst 1996 flüchten konnte, hat Karim allerdings einen sehr
persönlichen wenngleich ebenfalls triftigen Grund zur Flucht gehabt.
Wie er in der winterlichen bayerlichen Provinz ausgesetzt wurde statt bei seinem Onkel in
Paris, und wie er hier festsitzt, mal Duldung erfährt, mal den plötzlichen Entzug des
Bleiberechts, das wird ebenso plastisch wie realistisch geschildert. Das Labyrinth der
Asyl- und Ausländerbürokratie mit dem Nervenkrieg um lebenswichtige Bescheide, die oft
genug von einer einzigen Person in einer Behörde und deren subjektive Einstellung oder
gar momentaner Laune abhängen es war der Alltag im Niemandsland der Existenz und
dürfte in der Gegenwart ebenso sein.
Ebenso grantig aber erweist sich auch das endlose Ausharren in trostlosen
Asylbewerberheimen mit ihrer Enge, den Träumen und Sehnsüchten, der Verzweiflung und der
Wut. Dazu die aggressionstreibende Nähe all der gesunden jungen Männer, die zum
Nichtstun verdammt sind. Vereinzelt finden sie illegale Jobs oder lassen sich als
Sexobjekte aushalten.
Mit trockenem Humor, viel Sarkasmus und manch vordergründiger Komik mit bitterernstem
Beigeschmack kommen aber auch all die Tricksereien auf den Tisch, ohne die die Chancen auf
ein Durchkommen gleich bei Null sind. Welche Biographie könnte ziehen, um beim Richter
auf positives Gehör zu stoßen? Notfalls muss man eine passendere erfinden
und die eigentliche ganz für sich behalten. So gilt denn auch die größte Aufmerksamkeit
und Dankbarkeit denen, die die erfolgsversprechendsten Vorschläge machen.
Für Karim Mensy wird dann mit einem Schlag alles viel ungünstiger, denn nach dem 11.
September 2001 kippt die Stimmung massiv um für Orientalen wie ihn. Und hier kommt nun
die ungeheure Aktualität dieses Romans zum Tragen: Syrer, Iraker, Afghanen kommen zuhauf
und fast alle haben anerkennbare Gründe. Aber was 2001 das World Trade Center
auslöste, könnten in der Gegenwart die Silvester-Vorfälle in Köln und anderswo
bewirken.
Aktuell, authentisch, ungeschminkt offen, so kann dieses Buch niemanden kalt lassen. Doch
Ohrfeige ist nicht nur ein ganz wichtiges Buch in dieser Zeit, dank der
knappen und ebenso deftigen wie poetischen Sprache Khiders ist es auch ein literarischer
Genuss. Den hohen Stellenwert als Autor deutscher Sprache unterstreicht aber bereits die
dem Roman vorangestellte Laudatio von Hubert Spiegel zur Verleihung des
Nelly-Sachs-Preises 2003 an den Autor.
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