DAVID LAGERCRANTZ: DER
SÜNDENFALL VON WILMSLOW
Als David Lagercrantz 2011 den Auftrag erhielt, Teil 4 von Stieg Larssons
Millenniums-Serie unter dem Titel Verschwörung zu schreiben, war
man erstaunt, denn man kannte von ihm weithin nur einige Biographien wie die über den
Fußballstar Zlatan Ibrahimovic.
Doch Verschwörung wurde 2015 ein Weltbestseller und inzwischen wird auch
klar, warum die Wahl auf ihn fiel: zwei Jahre vor dem Auftrag hatte er in seiner
schwedischen Heimat mit seinem außergewöhnlichen Debütroman Der Sündenfall von
Wilmslow viel Lob geerntet. Der liegt jetzt auch auf Deutsch vor und im Mittelpunkt
steht mit Alan Turing (1912-1954) eine Persönlichkeit im Mittelpunkt, die tatsächlich
gelebt hat.
Turing war ein versponnener Sonderling aber auch ein visionärer Mathematiker. Er schuf
wesentliche Grundlagen für die moderne Informations- und Computertechnologie. Auf einem
anderen Feld jedoch leistete er ebenfalls Einzigartiges, das allerdings teils bis in die
70er Jahre strenger Geheimhaltung unterlag: bahnbrechende Arbeiten zur Entzifferung der
genialen deutschen Kodiermaschine Enigma.
Der Roman beginnt mit dem Tod Turings 1954, als der junge Kriminalbeamte Leonard Corell zu
ersten Ermittlungen in dessen Wohnung eintrifft. Neben dem Bett des Toten liegt ein mit
hochgiftigem Cyanid versetzter Apfel und alles deutet auf einen Suizid hin. Der Beweggrund
scheint schnell klar, denn der Wissenschaftler war 1952 wegen seiner Homosexualität
damals noch unter Strafe stehend vor die Alternative gestellt worden:
Gefängnis oder chemische Kastration.
Turing wählte die Hormone, die jedoch für das Wachsen von Brüsten sowie schwere
Depressionen sorgten. Als der offensichtliche Fall jedoch gar zu schnell abgeschlossen
werden soll, schürt das Corells Neugier um so mehr. Nun geht er heimlich den Rätseln
dieses Mannes nach und dies um so begieriger, als er selbst ein verhinderter Mathematiker
ist, der wegen des Ruins und des Selbstmords seines Vaters vom Studium abgehalten wurde.
Eher langsam, dabei aber sehr präzise und immer mehr fesselnd entwickelt sich der Krimi
zu einem Geschichts- und Wissenschaftsthriller, als Corell auf wohlgehütete Geheimnisse
stößt. Und mehr und mehr öffnet sich der Blick auf jene verbürgte kriegswichtige Rolle
Turings, der der fähigste Kopf im legendären Geheimdienstableger Bletchley Park war.
Fieberhaft wurde hier daran gearbeitet, die Rätsel der Enigma zu knacken, um die drohende
militärische Niederlage gegen Hitler abzuwenden.
Mit meisterhaftem Zeit- und Lokalkolorit schildert der Autor die schier unlösbar
erscheinenden Probleme all der klugen Köpfe in dem Wettlauf gegen die Zeit. Natürlich
gibt es auch zwischenmenschliche Reibereien und aus einer Richtung kommen bereits hier
bedrohliche Anwürfe wegen Turings offiziell nicht bestehender Homosexualität.
Hochspannend auch für mathematisch weniger Bewanderte erweisen sich gleichermaßen die
Versuche der Kryptoanalytiker, deren Verzweiflung Turing die hellsichtige Erkenntnisse
entgegenhält: Nur eine Maschine kann eine andere besiegen.
Wie das stotternde Genie schließlich der in den 50er Jahren noch grassierenden Homophobie
zum Opfer fällt, wird ebenfalls erhellt und macht insbesondere angesichts der Verdienste
dieses ansonsten so braven harmlosen Mannes betroffen. Es sollte noch bis 2009 dauern,
dass sich Premierminister Gordon Brown namens der britischen Regierung für die angetane
Schmach entschuldigte und Turings außerordentliche Verdienste für den
positiven Verlauf des Kriegs würdigte. Eine Begnadigung erfolgte dann 2013 durch einen
von Queen Elizabeth II. ausgesprochenen Royal Pardon.
Fazit: ein großartiger Kriminal- und Geschichtsroman vor realem Hintergrund, vorzüglich
und mit viel menschlichem Fingerspitzengefühl geschrieben.
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