DAVID SHIELDS/SHANE SALERNO: „SALINGER – EIN LEBEN“


„Je nachdem, welchen Standpunkt man einnimmt, war er ein Spinner oder der amerikanische Tolstoi, der das Schweigen selbst in sein aussagekräftigstes Werk verwandelt hat.“ Das sagte Charles McGrath, angesehener Kritiker der „New York Times“ nach dem Tod von Jerome D. Salinger (1919-2010).
Dieser rätselhaftesten Ikone der US-Literatur, die mit dem ersten Roman „Der Fänger im Roggen“ 1951 zum Kultautor mit weltweit millionenfacher Auflage wurde, spürten der Sachbuchautor David Shields und der Drehbuchautor und Regisseur Shane Salerno in neunjähriger intensiver Recherche für das große Dokumentarfilmprojekt „Salinger – Ein Leben“ nach. Als Begleitbuch dazu erschien jetzt unter demselben Titel eine Art Biographie-College von einzigartiger Machart.
Schon früh vermochte der Halbjude aus gehobenen New Yorker Kreisen erste Kurzgeschichten zu veröffentlichen, doch der eher scheue Hüne erlebte in diesen 40er Jahren auch jene zwei Katastrophen, die ihn für den Rest seines Lebens prägten und sein literarisches Schaffen aufs Intensivste beeinflussten. Als er mit 21 Jahren die erst 15-jährige Oona kennenlernte, Tochter des Literaturnobelpreisträgers Eugene O'Neill, war das die große Liebe seines Lebens.
Doch der nicht eben weltoffene, ernste junge Mann mit seinen endlosen Briefen passte ganz und gar nicht zu der vatergeschädigten Künstlertochter. Als sie sich sich dann in Hollywood unsterblich in den 36 Jahre älteren Charlie Chaplin verliebte und ihn 1943 gleich nach ihrem 18. Geburtstag heiratete, erfuhr Salinger – mittlerweile Kriegsfreiwilliger in Vorbereitung auf den Einsatz in Europa – dies aus der Zeitung. Ein Schock, den er nie verwand und der später auch für einige seltsame Liebesbeziehungen zu viel zu jungen Frauen führte.
Als Soldat ging er 1944/45 durch eine wahre Hölle mit 299 Tagen Kampfeinsatz, darunter mit der ersten Welle der Invasion und der schweren Niederlage in den Ardennen in einigen der schwersten Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Dennoch sollte der Höhepunkt des Grauens erst gegen Ende kommen, als seine Truppe das KZ-Außenlager Kaufering IV befreite und eines der abscheulichsten Beispiele des Holocaust als Augenzeuge erlebte. Woraufhin Salinger sich wegen der posttraumatischen Belastungen vorübergehend in ein Krankenhaus begab.
Die Erfahrungen dieser jungen Jahre ließen ihn nie wieder los, flossen in sein literarisches Werk und unmittelbar in seinen bereits begonnenen Kultroman ein. In zahllosen Fragmenten, Brief- und Romanausschnitten, Aussagen aus früheren Biographien und Büchern über Salinger und insbesondere durch gut 200 Interviews mit Familienmitgliedern, Freunden, Kriegskameraden und Kollegen der schreibenden Zunft formen die Autoren ein fesselndes Puzzle dieses unbekanntesten bekannten Autors, der schon nach dem „Fänger im Roggen“ vor Ruhm und Trubel floh. Kaum jemanden ließ er in sein abgelegenes Refugium in Cornish, New Hampshire, wo er weiterhin unablässig schrieb – dem Vernehmen nach bis an sein Lebensende mit 91 Jahren – um jedoch vor nunmehr 50 Jahren jegliche Veröffentlichungen einzustellen.
Gemunkelt wird von bis zu fünf Romanen, die im Tresor schlummern, doch auch so eröffnet das gewaltige Werk so manches bisher Unbekannte und offenbart außerdem eine Fülle bisher unveröffentlichter Fotos. Zugleich bleibt manches im Spekulativen wie jene wirklichen Umstände der kurzen Ehe mit einer deutschen Ärztin, die eventuell eine unrühmliche Nazi-Vergangenheit hatte. Und viele Rätsel um den geheimniskrämerischen Kultautor bleiben einfach ungelöst und lassen den Mythos gerade deshalb eher noch wachsen. Fazit: dieses ungewöhnliche Buch ist trotz der ein oder anderen Schwäche ein faszinierendes Stück Literatur zu einem der einflussreichsten Autoren der letzten 100 Jahre.

# David Shields/Shane Salerno: Salinger – Ein Leben (aus dem Amerikanischen von Yamin von Rauch); 826 Seiten, div. Abb.; Droemer Verlag, München; € 34

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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