MELVIN J. LASKY: UND ALLES WAR
STILL
Dienstag, 8. Mai 1945. Ein warmer, sonniger Tag. Der Krieg ist vorbei. Laster in
Konvois, überladen mit Gefangenen. Eine alte Frau, ein junges Mädchen winken zum
Abschied, gehen langsam weiter. Kinder spielen in Schützengräben, in Wrackteilen von
Flakausrüstungen. Straßenschilder der 3. Division. Dachau.
Das schrieb der 25-jährige Melvin J. Lasky (1920-2004) an jenem historischen Tag in sein
Tagebuch. Der in New York geborene Sohn polnischer Einwanderer begleitete die 7. US-Armee
ab 1944 als combat historian beim Vormarsch durch Frankreich ins Deutsche
Reich, um die Ereignisse schriftlich zu dokumentieren. Diese Aufzeichnungen des
Oberleutnants umfassen das gesamte Jahr 1945 und reichen bis 1946 hinein. Doch die
Niederschriften dieses brillanten Beobachters und genauen Chronisten blieben
unveröffentlicht.
Erst nach dem Tod des Autors, der in Deutschland zu einem der bedeutendsten Publizisten
aufstieg, regte seine Witwe, die Romanautorin Helga Hegewisch-Lasky, den langjährigen
Freund der Familie Wolfgang Schuller zu einer Herausgabe an. So liegt das Werk nun unter
dem Titel Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945 vor, zu dem Historiker
Schuller ein ausführliches Nachwort mit wichtigen Erläuterungen beisteuerte.
Lasky, linksintellektuell und mit guten Deutschkenntnissen samt einer großen Vorliebe
für die deutschen Dichter und Denker ausgestattet, war prädestiniert für seine Aufgabe.
Richtig interessant wurde es für ihn jedoch erst mit dem Vorrücken in der Nachhut auf
Reichsgebiet und den ersten Begegnungen mit den Niedergekämpften. Fassungslos reist er
durch die Ruinenlandschaften voller Chaos und hält die Situationen inklaren Sätzen fest.
Und er ist nicht nur ein Beobachter mit dem Blick von außen, er ist auch ein
exzellenter, wortmächtiger Berichterstatter.
Er begegnet Davongekommenen aus KZs ebenso wie Kriegsgefangenen, Nazis, Mitläufern und
Ausgebombten. Zu dem beeindruckenden Mosaik gehören aber ebenso Aussagen alliierter
Soldaten wie auch von so manchen Deutschen, die ihre Unschuld und Machtlosigkeit gegen das
Regime beteuern. Bald setzt sich Lasky über das von vielen kritisierte
Fraternisierungsverbot hinweg, das für beide Seiten eine Belastung darstellte. Und kommt
gerade durch seine Grenzüberschreitungen zu den spannendsten Begegnungen und
Erkenntnissen.
Das Wort Neger ist übrigens noch im allgemeinen Sprachgebrauch und scharfer
Sachlichkeit schildert Lasky zum Beispiel den Fall einer jungen Deutschen, die mit
schwarzen Soldaten geturtelt hatte und nun zur VD-Kontrolle (Untersuchung auf
Geschlechtskrankheiten) herangezogen wurde. Als ihr weiße Offiziere vorhielten, dass der
Umgang und noch mehr der Sex weißer Frauen mit Negern missbilligt werde, zitiert Lasky
die Frau ge-nüsslich mit den Worten: Es sind Amerikaner, genau wie Sie oder
etwa nicht? Ihre Demokratie sagt, alle Menschen sind gleich.
Lasky bekommt auch erste Einblicke in den sowjetischen Besatzungsbereich mit dem
offiziell noch unaussprechlichen Verdacht auf eine diktatorische kommunistische
Entwicklung, wie sie sich wenige Jahre später vollends ausbreiten sollte. Auch das zählt
zu den faszinierenden Eindrücken, die diese ganz und gar unmittelbare, unverstellte
Chronik vermittelt. Besser sind Zeit- und Lokalkolorit kaum denkbar und der Begriff
authentisch krönt dieses Buch.
Lasky hat nicht nur ab 1948 das ungemein wichtige Magazin Der Monat
herausgegeben, sondern sich auch ansonsten für die demokratische Entwicklung Deutschlands
engagiert. Was für einen Mann mit seinen jüdischen Wurzeln eher ungewöhnlich war. Mit
diesem Tagebuch werden die Motive, über die er kaum sprach, verständlicher. Fazit: ein
höchst wertvolles Zeitdokument, dass die Stunde null unseres Landes vor
nunmehr 70 Jahren lebendig werden lasst.
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