HUGO HAMILTON: „JEDE EINZELNE MINUTE“


Der deutsch-irische Erfolgsautor Hugo Hamilton hat einige seiner besten Bücher als Mischung aus Fiktion und realen Memoiren veröffentlicht. Mit seinem jüngsten Werk „Jede einzelne Minute“ steigert er dieses Prinzip noch, denn da erzählt er von der letzten Reise mit einer berühmten Kollegin und setzt ihr damit ein bemerkenswertes Denkmal.
Tatsächlich reiste Hamilton, Jahrgang 1953, mit der renommierten irischen Journalistin und Autorin Nuala O'Faolain (1940-2008) kurz vor deren Tod ihrem letzten Wunsch entsprechend für zwei Tage nach Berlin. Im Buch nun sind sie Liam und Una, Schriftstellerkollegen aus Dublin wie im richtigen Leben. Die bereits an den Rollstuhl gefesselte streitbare Dame hat ganz eigene Vorstellungen, warum es Berlin sein soll, und dort steigen sie im feinen Hotel „Adlon“ ab und mieten sich für Fahrten zu typischen Zielen wie dem Botanischen Garten oder dem Pergamon-Museum einen Wagen samt Fahrer.
Doch es geht nur äußerlich um das Sightseeing in dem ihr fremden Berlin, denn die auf den baldigen Tod kranke Una trägt weit mehr noch als Ich-Erzähler Liam an viel emotionalem Gepäck. Vom Fahrer wegen des äußerlich stark wirkenden Altersunterschied als Mutter und Sohn missverstanden, kann sich die nie verheiratete Frau mit zahlreichen Affären und schweren Narben aus Kindheit und Jugend dem Freund Liam öffnen, denn mehr als gute Freunde waren sie nie.
Gallige Erinnerungen kommen bei Una hoch und besonders intensiv die an den tragischen Tod ihres jüngeren Bruders. Der habe sich zu Tode getrunken wegen des Elends mit der versoffenen Mutter und dem nach außen hin hoch angesehenen Vaters, der daheim ein mieser, gewalttätiger Tyrann war. Diese quälenden Lasten finden ihren Höhepunkt im Besuch von Verdis Oper „Don Carlos“, in deren Mittelpunkt Vater-Kind-Beziehungen stehen.
Trotz dieser Gedanken, die auch bei Liam Düsteres aus der Familie wieder heraufbeschwören, hat dieses Buch auch überraschend heitere Passagen und nicht von ungefähr heißt es an einer Stelle: „Ja, ich sterbe, sagte sie, aber davon abgesehen geht es mir doch prima!“ Unas Wut und Aufbegehren richten sich ohnehin weniger gegen den nahen Tod als gegen einzelne Umstände wie in der anrührenden Szene, als sie ihre Langhaarperücke in die Ecke schleudert, um sie nie wieder zu tragen. Immerhin kann der sie rührend und geduldig umsorgende Liam ihr seine Baseball-Cap für den kahlen Schädel andienen gegen die kühle Mai-Brise.
Von Ungeduld und Zuneigung, von Verzweiflung und Glück, vom Zorn auf Vergangenes und von Unas Verweigerung, den Schuldigen in ihrer Familie zu vergeben, erzählt dieser Reisebericht der besonderen Art, der tief berührt, trotz der Situation aber nicht traurig macht oder gar niederdrückt.
Einmal mehr erweist sich Hugo Hamilton als ein Meister der Sprache, der auch Emotionen von größtem Ernst ohne bleierne Schwere mit oft unvergesslichen Sätzen auszudrücken weiß. Fazit: ein wunderbarer Roman und dies um so mehr, da man weiß, wie authentisch er ist.

# Hugo Hamilton: Jede einzelne Minute (aus dem Englischen von Henning Ahrens); 352 Seiten, Nachwort Elke Heidenreich; Luchterhand Literaturverlag, München; € 18,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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