RICHARD OVERY: DER
BOMBENKRIEG
Richard Overy zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart, nun hat sich
der Professor für Geschichte an der University of Exeter mit einem umfangreichen neuen
Buch unter dem Titel Der Bombenkrieg. Europa 1939-1945 einem besonders
wichtigen Teilgebiet des Zweiten Weltkriegs gewidmet. Der Autor nennt es selbst den ersten
Versuch eine vollständigen Darstellung des Themas.
Drei Grundsätze waren ihm dabei besonders wichtig: es ging ihm um den Bombenkrieg auf
sämtlichen Kriegsschauplätzen, denn gerade Frankreich und Italien aber auch die
Sowjetunion wurden bisher zu Unrecht eher vernachlässigt. Als nächstes betrachtete Overy
den Bombenkrieg als Teil des strategischen Ganzen, wo dieser Aspekt von allen
Luftwaffenführungen in seiner tatsächlichen Bedeutung stark überschätzt wurde
in Europa waren Bombenangriffe zu keinem Zeitpunkt eine kriegsentscheidende Strategie.
Eine dritte, in dieser Art bisher zumeist unterbliebene Betrachtung gilt dem Blick auf die
Bombardements aus beiden Blickwinkeln: Ziele und tatsächliche Auswirkungen sowie die
Effizienz und die ethische Bewertung wobei sich der britische Autor einer
moralischen Beurteilung gänzlich enthält, andererseits aber mit manchen Mythen und
Propagandalügen aufräumt. Was schon mit den Zahlen beginnt, wo die nüchternen Fakten
zum Beispiel die auch noch von Nachkriegshistorikern genannten Zahlen deutscher Toten
durch Bombenangriffe von 570.000 auf real 353.000 herunterrechnet.
Aber auch andere Fantasiezahlen widerlegt er schlüssig. So hält er es für
ausgeschlossen, dass in Stalingrad durch die Luftwaffe am 23. August 1942 unglaubliche
40.000 Menschen umkamen, was immerhin 10 Prozent der Gesamtbevölkerung gewesen wäre.
Solche Horrorzahlen sind offensichtlich Propaganda wie die Opferzahlen von Warschau (1939:
30.000) und Rotterdam (1940: 20.000), wo Overy von jeweils etwa 7.000 ausgeht. Er nennt
für ganz Europa eine Gesamtzahl von 600.000 Bombentoten und eine ähnliche Anzahl von
Schwerverletzten.
Eine andere Legende lässt sich ebenfalls nicht halten: dass die Deutschen mit der
gezielten Bombardierung der Zivilbevölkerung begonnen hätten. Dass Zivilopfer auch in
großer Zahl in kauf genommen wurden, ist unstrittig, doch erfolgten solche Bombardements
strategisch eingebunden in die Bodenoffensiven wie in Polen, den Niederlanden und zum
Beispiel in Stalingrad. Selbst den Blitz, die elfmonatigen rollenden
Bombenangriffe der sogenannten Schlacht um England weist Overy als eine grundsätzlich
strategische Offensive aus, die gewissermaßen ein Weichklopfen ohne Einsatz von
Bodentruppen erreichen sollten.
Doch trotz schwerer Schäden und 43.000 Ziviltoten erreichte der Bombenterror weder einen
Zusammenbruch der Moral in der Zivilgesellschaft noch den der Kriegswirtschaft. Zugleich
wird schon hier offenbar, wie nicht nur die Angegriffenen den Gegner überschätzten und
die Angreifer schon rein zahlenmäßig die Verteidiger unterschätzten sämtliche
Luftwaffenführungen überschätzten die Effizienz und den Erfolg ihrer Angriffe in teils
eklatanter Weise.
Was nun die höchst kontroverse Bombardierung ziviler Ziele angeht, wird hier
nachgewiesen, dass es Churchill war, der von Beginn an Flächenbombardements deutscher
Städte für gerechtfertigt hielt, während Hitler hier eher ein Reagierender war. Noch
kritischer erweisen sich die massiven alliierten Bombardierungen Frankreichs und Italiens
immerhin hatte Frankreich 53.000 Bombenopfer zu beklagen.
Der Autor geht aber auch der spannenden Frage nach, warum keine der bombardierten
Gesellschaften wie von den Militärs erwartet zusammenbrach. Selbst die massiven Angriffe
auf Sofia, die Bulgarien aus dem Bündnis mit den Nazis treiben sollten, oder die auf das
kriegsmüde Mussolini-Italien beschleunigten allenfalls entsprechende Entwicklungen.
Frappierend erweisen sich dagegen die Fakten für das Deutsche Reich, das trotz schwerster
Daueroffensiven - und selbst, als sich die 8. US-Army auf die Bombardierung nutzbringender
Ziele wie die erdölverarbeitende Industrie und die Flugzeugproduktion verlegte die
Produktionszahlen der Kriegsindustrie 1944 einen unglaublichen Höchststand erreichte. Als
Schwächen, die den Einschätzungen von Befehlshabern wie Reichsluftmarschall Göring und
Bomber-Harris massiv entgegenstanden, werden hier zudem gravierende Fehler in
Technik und Effektivität aufgedeckt.
Die Fülle des Materials ist gewaltig, doch Richard Overy lässt nichts Wichtiges aus,
rückt Verhältnisse ins richtige Licht und geht bei all dem mit wissenschaftlicher
Neutralität vor. Auch weniger beachtete Aspekte wie Stand und Entwicklung von
militärischen und zivilen Luftschutzmaßnahmen oder die kleine aber strategisch
bedeutsame Insel Malta als meistbombardierter Ort der Welt finden lebendig
geschriebene Erwähnung. Mit all seinen hervorragenden Qualitäten dürfte Overys Buch das
konkurrenzlose Standardwerk zum Thema sein und in keiner Gesamtschau zum Zweiten Weltkrieg
fehlen.
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